Logo jurisLogo Bundesregierung

Bekanntmachung einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (Zur Umsetzbarkeit der Vorschläge der Europäischen Kommission zu Kapitel IX der neuen europäischen Grundnormen des Strahlenschutzes)

Zurück zur Teilliste Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Bekanntmachung
einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission
(Zur Umsetzbarkeit der Vorschläge der Europäischen Kommission zu
Kapitel IX der neuen europäischen Grundnormen des Strahlenschutzes)



Vom 26. März 2013





Nachfolgend wird die Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK), verabschiedet in der 257. Sitzung der Kommission am 5./6. Juli 2012, bekannt gegeben (Anlage).



Bonn, den 26. März 2013
RS II 2 - 17027/2



Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit



Im Auftrag
Dr. Böttger





Anlage



Zur Umsetzbarkeit der Vorschläge der Europäischen Kommission
zu Kapitel IX der neuen europäischen Grundnormen des Strahlenschutzes
Stellungnahme der Strahlenschutzkommission



Verabschiedet in der 257. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 5./6. Juli 2012





Inhaltsverzeichnis



1

Beratungsauftrag

2

Anforderungen von Kapitel IX des Vorschlags der Euratom-Grundnormen

3

Stellungnahme





1 Beratungsauftrag



Der Vorschlag der Europäischen Kommission zur neuen Richtlinie des Rates zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung (Euratom-Grundnormen) vom 29. September 2011 enthält im Kapitel IX Anforderungen zum Schutz der Umwelt, insbesondere der nicht menschlichen Arten. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) bat mit Schreiben vom 15. Februar 2012 um eine Stellungnahme der SSK zur Umsetzbarkeit der Vorschläge der Europäischen Kommission zu Kapitel IX der neuen Euratom-Grundnormen vor dem Hintergrund des derzeitigen Kenntnisstandes zum Schutz nicht menschlicher Arten.



Die SSK hat eine Stellungnahme unter Bezug auf Vorarbeiten verfasst, die im Zusammenhang mit einem älteren Beratungsauftrag zum Schutz der Umwelt durch die Arbeitsgruppe „Schutz der Umwelt“ des Ausschusses „Radioökologie“ der SSK durchgeführt worden sind.





2 Anforderungen von Kapitel IX des Vorschlags der Euratom-Grundnormen



Das Kapitel IX des Vorschlags der Euratom-Grundnormen vom 29. September 2011 fordert von den Mitgliedstaaten, Umweltkriterien in Form von Bestimmungen über den Strahlenschutz nicht menschlicher Arten in der Umwelt in den Strahlenschutz und darüber hinaus in das Gesamtsystem für den Schutz der menschlichen Gesundheit aufzunehmen (Artikel 76). Damit soll eine Grundlage für den Schutz von Populationen gefährdeter oder repräsentativer nicht menschlicher Arten vor schädlichen Wirkungen ionisierender Strahlung gelegt werden. Der Bedeutung der Arten innerhalb von Ökosystemen soll Rechnung getragen werden. Gegebenenfalls sind Arten von menschlichen Handlungen (Tätigkeiten im Sinne der neuen Euratom-Grundnormen1) zu bestimmen, die eine aufsichtsrechtliche Kontrolle erfordern, damit die Vorgaben dieses Rechtsrahmens umgesetzt werden.



Die zum Schutz der Bevölkerung unter normalen Bedingungen festzulegenden Grenzwerte für die Ableitung radioaktiver Stoffe haben auch einen angemessenen Schutz nicht menschlicher Arten zu beachten. Die Mitgliedstaaten können für ihr Staatsgebiet durch eine generische Übersichtsuntersuchung2 überprüfen, ob die Umweltkriterien damit eingehalten sind (Artikel 77).



Für den Fall von unfallbedingten Freisetzungen sollen die Mitgliedstaaten die betreffenden Unternehmen verpflichten, angemessene technische Maßnahmen zu treffen, um wesentliche Umweltschäden zu verhindern oder das Ausmaß solcher Schäden zu begrenzen (Artikel 78).



Bei der Festlegung von Umweltüberwachungsprogrammen und bei der Verpflichtung zur Durchführung solcher Programme sind erforderlichenfalls auch repräsentative nicht menschliche Arten sowie Umweltmedien, die einen Expositionspfad für Einzelpersonen der Bevölkerung darstellen, zu berücksichtigen (Artikel 79).





3 Stellungnahme



Die SSK hat sich mit den Konsequenzen der im Kapitel 2 dieser Stellungnahme zusammengefassten Anforderungen der Euratom-Grundnormen befasst und kommt zu folgenden Einschätzungen und Empfehlungen:



(1)
Im Kapitel IX der Euratom-Grundnormen werden neue Begriffe (z.B. environmental criteria, environmental damage, system of human health protection, vulnerable species) in den Strahlenschutz eingeführt, deren Bedeutung im Rahmen einer rechtlichen Umsetzung verschiedene Interpretationen zulässt. Nach Auffassung der SSK bedarf es der weiteren Präzisierung dieser Begriffe durch die Europäische Kommission.


Einige der in der vorliegenden deutschen Übersetzung der Euratom-Grundnormen enthaltenen Begriffe (z.B. gefährdete Arten, Umweltschäden) sind im deutschen Umweltrecht bereits belegt. Bei der Umsetzung in deutsches Recht sollte darauf geachtet werden, dass die von der Europäischen Kommission intendierten Inhalte sich wiederfinden.


(2)
Für die Umsetzung der Euratom-Grundnormen ist zu beachten, dass im Kapitel IX unter dem Titel „Umweltschutz“ der Schutz der belebten Natur vor populationsrelevanten Schadwirkungen ionisierender Strahlung im Mittelpunkt steht. In Deutschland wird unter Umwelt das auf ein konkretes Gebiet bezogene Gesamtsystem von Menschen, Naturhaushalt und Landschaft, der Kulturgüter und sonstigen Sachgüter (Umweltgüter) sowie das Wirkungsgefüge zwischen den Umweltgütern verstanden. Der Schutz von Menschen vor ionisierender Strahlung aus den Umweltmedien Wasser, Boden und Umgebungsluft sowie der damit in Verbindung stehenden Lebensmittel ist als Schutz von Einzelpersonen der Bevölkerung bereits im Strahlenschutz geregelt und wird in den Euratom-Grundnormen in Kapitel VIII behandelt.


(3)
Durch die Ausdehnung des Strahlenschutzes auf den Schutz von nicht menschlichen Arten wird der Strahlenschutz um eine Komponente ergänzt, die bereits seit langem Teil des auf chemisch-toxische Stoffe bezogenen Umweltschutzes ist. Die SSK unterstützt daher grundsätzlich den Vorschlag der Euratom-Grundnormen, den Schutz der Umwelt explizit in den Regelungsbereich des Strahlenschutzes aufzunehmen.


(4)
Die SSK sieht die Anforderungen des Kapitels IX der Euratom-Grundnormen mit Ausnahme der in Nummer 10 genannten Forderung grundsätzlich für umsetzbar an. Sie weist aber darauf hin, dass der Kenntnisstand zu den Strahlenwirkungen auf nicht menschliche Arten noch erhebliche Unsicherheiten aufweist und für eine Reihe von Aspekten noch konkrete Regelungen als Voraussetzung der europaweit harmonisierten Umsetzung nötig sind:


Die Einführung von Umweltkriterien (Artikel 76) erfordert die Festlegung von geeigneten Größen und Werten im Hinblick auf ein damit verbundenes Schutzniveau. Zu allen damit verbundenen Fragen gibt es derzeit kein international abgestimmtes einheitliches Konzept. Es ist bisher nicht klar, bis zu welcher Dosisschwelle von geringfügigen Strahlenwirkungen auf Populationen von Pflanzen und Tiere auszugehen ist („trivial dose“) und ab welcher Dosisschwelle signifikante (schädliche) Wirkungen/Schadwirkungen auftreten.


Die praktische Umsetzung von Umweltkriterien erfordert neue Berechnungsmodelle. International wird für die Berechnung von Strahlenexpositionen nicht menschlicher Arten das Konzept der Referenzorganismen entwickelt. Mit diesem Ansatz werden mit vertretbarem Aufwand Aussagen über die Strahlenexposition von Lebewesen erhalten. Darauf basierend können Aussagen über Schadwirkungen auf Populationen abgeleitet werden, die möglicherweise die Funktionalität von Ökosystemen beeinflussen könnten.


Im Hinblick auf die Forderung der Euratom-Grundnormen, gegebenenfalls Arten von menschlichen Handlungen zu bestimmen, die eine aufsichtsrechtliche Kontrolle erfordern, sind durch die konzeptionell einheitliche Behandlung von künstlicher und natürlicher Radioaktivität in den Euratom-Grundnormen die sogenannten NORM3-Industrien als relevanter Bereich von menschlichen Handlungen zu berücksichtigen. Die SSK sieht in Kenntnis der Ergebnisse einer Studie des Öko-Institutes und des Helmholtz Zentrums4 keine Notwendigkeit, die aufsichtsrechtliche Kontrolle der Kernkraftwerke auf Pflanzen und Tiere auszudehnen. Sie sieht es jedoch als erforderlich an, zu überprüfen, ob bzw. unter welchen Bedingungen Ableitungen aus anderen kerntechnischen Anlagen oder strahlenschutzrechtlich genehmigten Einrichtungen sowie Ableitungen aus Bergbau oder NORM-Industrien zu Situationen führen, die einer Kontrolle bedürfen.


(5)
In Anbetracht der hier aufgezeigten Notwendigkeit zur Entwicklung konkreter Regelwerke empfiehlt die SSK, bei der Europäischen Kommission darauf hinzuwirken, dass angemessene Umsetzungsfristen für das Kapitel IX der Euratom-Grundnormen vereinbart werden und dass von Seiten der Europäischen Kommission Empfehlungen erarbeitet werden, die einen abgestimmten Vollzug der Anforderungen in Europa sicherstellen.


(6)
Die im Artikel 77 den Mitgliedstaaten freigestellte generelle Untersuchung, ob durch die Begrenzung der Strahlenexposition des Menschen bei Ableitungen auch der Schutz von nicht menschlichen Arten sichergestellt ist, wurde in Deutschland durch eine Untersuchung des Öko-Institutes und des Helmholtz Zentrums4 bereits durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Arbeit können zur Umsetzung der Euratom-Grundnormen herangezogen werden.


(7)
Im Zusammenhang mit der Verhinderung oder Begrenzung von unfallbedingten Umweltschäden (Artikel 78) sieht die SSK einen Klärungsbedarf zur Notwendigkeit zusätzlicher Maßnahmen vor allem im Hinblick auf NORM-Industrien. Aus bestehenden Regelungen im deutschen Umweltrecht ergeben sich bereits jetzt Inkonsistenzen bei der Bewertung von radioaktiven Kontaminationen von Umweltmedien im Hinblick auf Umweltschäden (insbesondere im Wasserrecht), die im Zusammenhang mit der Umsetzung der neuen Euratom-Grundnormen soweit möglich rechtlich klargestellt werden sollten.


(8)
Aus Artikel 79 ist die Forderung ableitbar, erforderlichenfalls auch repräsentative nicht menschliche Arten bei der Festlegung von Umweltüberwachungsprogrammen und bei der Verpflichtung zur Durchführung solcher Programme zu berücksichtigen. Die SSK sieht es beim derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht für sinnvoll an, aus Gründen des Strahlenschutzes ein amtliches Monitoring von Populationen durchzuführen.


(9)
In Bezug auf die Radioaktivtät in sensitiven Lebensräumen nicht menschlicher Arten werden durch bestehende Überwachungsprogramme (z.B. REI, IMIS, REI-Bergbau) wesentliche Anforderungen des Artikels 79 bereits grundsätzlich umgesetzt. Die Daten dieser Umweltüberwachungsprogramme müssten bei der Implementierung der neuen Grundnormen ggf. ergänzt werden, um auch Basisdaten natürlicher Radionuklide zu erheben, die eine Beurteilung erlauben, inwieweit sich die Radioaktivität in sensitiven Lebensräumen nicht menschlicher Arten durch anthropogene Einflüsse verändert. Dabei sollte der aquatische Lebensraum besonders berücksichtigt werden.


(10)
Die Bedeutung der im Artikel 76 enthaltenen Forderung an die Mitgliedstaaten, auch Bestimmungen über den Strahlenschutz nicht menschlicher Arten in der Umwelt „in ihr Gesamtsystem für den Schutz der menschlichen Gesundheit“ aufzunehmen, ist nach Meinung der SSK unklar. Sofern damit zusätzliche Anforderungen in anderen Rechtsbereichen als dem Strahlenschutz/Atomrecht verbunden wären, sieht die SSK eine solche Regelung weder für notwendig noch für durchführbar an. Die SSK empfiehlt dem BMU darauf hinzuwirken, dass diese Passage im Artikel 76 der Grundnormen präzisiert oder gestrichen wird.