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Bekanntmachung einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission (Möglichkeiten epidemiologischer Studien zum Zusammenhang von Kinderleukämien und natürlicher Radon-Exposition)

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Strahlenschutzkommission

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Strahlenschutzkommission

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Möglichkeiten epidemiologischer Studien zum Zusammenhang von Kinderleukämien und natürlicher Radon-Exposition

Empfehlung der Strahlenschutzkommission





Verabschiedet in der 217. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 20./21. September 2007





Inhaltsverzeichnis


1

Hintergrund

2

Methodik und Ergebnisse der Studie

3

Bewertung der Studie

4

Dosisabschätzung und Dosis-Wirkungszusammenhang

5

Allgemeine Bewertung der Aussagekraft ökologischer Studien

6

Andere Studien / andere Studiendesigns

7

Problematik einer möglichen ökologischen Studie in Deutschland

8

Durchführung und Aussagekraft einer Fall-Kontrollstudie

Literatur





1
 Hintergrund

Ausgelöst durch eine französische Studie [1], in der regionale Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Kinderleukämien und der natürlichen Hintergrundstrahlung untersucht worden waren, wurde die Frage aufgeworfen, ob die Durchführung einer entsprechenden Studie auch für Deutschland sinnvoll sei. In der französischen Studie wurden 5.330 Fälle kindlicher akuter Leukämien (ALL und AML) aus dem französischen Kinderkrebsregister der Jahre 1990-2001 in einem ökologischen Studiendesign (geographische Korrelationsstudie) mit Daten zur mittleren häuslichen Radon-Konzentration in den einzelnen Regionen sowie mit Daten zur kosmischen und terrestrischen Gamma-Strahlung in Verbindung gebracht. Es konnte kein Hinweis auf eine Assoziation zwischen der Gamma-Exposition und den Leukämie-Erkrankungsraten festgestellt werden. Allerdings erwies sich eine positive Korrelation zwischen der häuslichen Radon-Exposition und der AML-Inzidenzrate als statistisch signifikant. Das Standardisierte Inzidenzverhältnis (SIR) bei einem Unterschied der Radon-Konzentration von 100 Bq/m³ wurde für diesen Fall mit 1,29 (95%KI: 1,09-1,53) angegeben.



Die Frage nach der Zweckmäßigkeit einer Studie mit ähnlicher Zielsetzung für Deutschland betrifft sowohl die Durchführbarkeit selbst, d.h. insbesondere die Frage nach dem notwendigen Studienumfang und der Verfügbarkeit und Qualität von Datenquellen, als auch die Aussagekraft der zu erwartenden Ergebnisse aufgrund des Studienansatzes.





2
 Methodik und Ergebnisse der Studie

Die Untersuchung von Evrard et al. [1] ist als geographische (ökologische) Studie konzipiert. Es werden die Standardisierten Inzidenzverhältnisse SIR für Akute Leukämien (Akute Lymphatische Leukämie, ALL, und Akute Myeloische Leukämie, AML) bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren in den 95 französischen Départements als Verhältnis von beobachteten zu erwarteten Fallzahlen bestimmt. Die Inzidenzzahlen entstammen dem französischen Kinderkrebsregister der Jahre 1990 bis 2001 (12 Beobachtungsjahre). Die mittlere Inzidenzrate beträgt 4,0×10-5/a.



Für jedes Département werden Expositionsdaten für terrestrische und kosmische Strahlung sowie für Radon in Innenräumen herangezogen. Die Daten zur gesamten externen Gamma-Exposition (arithmetischer Mittelwert: 0,77 mSv/a) und zur Radon-Aktivitätskonzentration in Wohnräumen (arithmetischer Mittelwert: 88 Bq/m³) entstammen verschiedenen nationalen Überwachungsnetzen und Messprogrammen. Die kosmische Strahlungskomponente wird errechnet (arithmetischer Mittelwert: 0,28 mSv/a). Aus den Expositionsdaten werden Organdosen für das rote Knochenmark (RBM) als das für die Leukämieinduktion relevante Organ bestimmt. Dabei wird die terrestrische Gamma-Dosisleistung (TGR) für das Knochenmark (arithmetischer Mittelwert: 0,49 mSv/a) aus der Gesamt-Gamma-Dosisleistung durch Subtraktion der kosmischen Strahlungskomponente ermittelt und mit der effektiven Dosisleistung gleichgesetzt.



Die Umrechnung aus der Radon-Aktivitätskonzentration in die RBM-Organdosisleistung erfolgt mit dem aus [2] zitierten Dosiskoeffizienten von 0,55 mSv/a pro 100 Bq/m³ und resultiert in einer mittleren Dosisleistung für das Knochenmark von 0,48 mSv/a.



Die Verteilungen sowohl der Radon-Konzentrationen als auch der TGR über alle 95 französischen (Mutterlands-) Départements werden jeweils in Quintile (d.h. 5 Fraktile bzw. Quantile der Verteilung) eingeteilt. Die für das jeweilige 1. Quintil ermittelten SIR (beobachtete zur erwarteten Fallzahl) werden als Referenz SIRRef für die SIR aller anderen Quintile definiert. Die Klassenbildung über die Quintile soll dabei das jeweilige Expositionsmaß darstellen.



In der Auswertung ergibt sich kein Hinweis auf eine Assoziation der Kindheits-Inzidenz für ALL, AML und alle akuten Leukämien zusammen (AL) mit der terrestrischen Gamma-Strahlung (TGR). Ebenso tritt keine Assoziation für ALL und AL mit der Radon-Aktivitätskonzentration auf. Für AML ist allerdings für einen Unterschied der Radonkonzentration von 100 Bq/m³ eine schwache, statistisch signifikante Assoziation mit der Radon-Konzentration festzustellen (SIR=1,19; KI: 1,03-1,38). In einer multivariaten Analyse unter Berücksichtigung von 3 Klassen (Tertile) für die TGR verstärkt sich die Assoziation mit SIR=1,29 (KI: 1,09-1,53). In der entsprechenden multivariaten Analyse für TGR mit Tertilen für die Radon-Konzentration tritt weiterhin keine Assoziation auf.





3
 Bewertung der Studie

Ein Zusammenhang zwischen der Radon-Exposition in Wohnungen und der Lungenkrebsrate ist epidemiologisch zweifelsfrei nachgewiesen und biologisch begründbar (z.B. [16]). Ob Radon ein relevanter Risikofaktor auch für Leukämie ist, ist jedoch weniger klar. In biokinetischen Modellen erscheint ein solcher Zusammenhang für sehr hohe Radonexpositionen als durchaus plausibel (z.B. [3,15]). Epidemiologische Studien erbrachten dagegen ein eher uneinheitliches Bild [4-12].



Die Expositionserfassungen, insbesondere die Radon-Konzentrationsbestimmungen, sind problematisch. Jede der Angaben soll die Durchschnittsexposition der Bevölkerung repräsentieren. Die Variationen für die Bevölkerung innerhalb eines Départements sowohl hinsichtlich der TGR als auch in noch stärkerem Maß hinsichtlich der Radon-Konzentration können erheblich sein. Durchaus noch stärker können Schwankungen der Radon-Konzentrationen innerhalb von Wohnungen bzw. in kleinräumigen Wohnbezirken sein. Diese können zudem noch mit sozioökonomischen Parametern korreliert sein [13,14]. Trotz der etwa 150 Messungen pro Département ist deren Verteilung (Schiefheit und weitere statistische Kenngrößen höherer Ordnung) nicht ausreichend bekannt. Systematische Abweichungen und statistische Abhängigkeiten sind nicht ausgeschlossen.



Eine kritische Größe bei der Bestimmung bzw. Interpretation der SIR in ökologischen Studien ist häufig die geeignete Wahl einer Vergleichsbevölkerung. In dieser Studie wurde das 1. Quintil als Vergleichsbevölkerung herangezogen. Es ist damit zwar keineswegs ausgeschlossen, dass sich die zu vergleichenden Bevölkerungsgruppen in anderen (regionalen) Merkmalen unterscheiden, die zu unterschiedlichen Inzidenzraten führen können, im vorliegenden Fall ist dies jedoch wenig wahrscheinlich.



Als weiterer Punkt muss das Problem des multiplen Testens berücksichtigt werden: In einer Studie mit einer Gruppierung mit 20 statistischen Tests tritt bei Vorliegen einer vollständig zufälligen Krankheitsverteilung dennoch im statistischen Mittel eine Gruppe auf, für die der ermittelte Risikowert außerhalb des 95%-Vertrauensbereichs liegt und damit als statistisch signifikant fehlinterpretiert würde. Es finden sich beispielsweise in den Tabn. 2 und 3 der vorliegenden Arbeit jeweils 10 unabhängige Gruppen (je 5 Quintile für AML und ALL), unter denen sich dann mit etwa 50% Wahrscheinlichkeit eine Gruppe mit einem Vertrauensbereich, der die 1 ausschließt, befinden würde, selbst wenn eine zufällige Leukämie-Verteilung vorläge. Die Autoren berücksichtigen diesen Punkt.





4
 Dosisabschätzung und Dosis-Wirkungszusammenhang

In der Literatur finden sich Angaben zu Dosiskoeffizienten zur Umrechnung von Radon-Aktivitätskonzentrationen zu Organdosisleistungen für das rote Knochenmark (RBM), die im Bereich von 0,1 bis 0,6 mSv/a pro 100 Bq/m³ liegen [2,3,15]. Unter der konservativen Annahme, dass die kurzlebigen Tochternuklide von Rn-222 direkt am Ort des Zerfalls von Radon entstehen und dort verbleiben, dass das rote Knochenmark ein homogenes Gemisch von Fettzellen (Quellengewebe) und blutbildenden Zellen (Targetgewebe) ist und dass die Selbstabsorption in den Fettzellen keine Rolle spielt, kommt Kursheed [3] zu einem Dosiskoeffizient für RBM von 0,32 mSv/a pro 100 Bq/m³. Die effektive Dosis für alle durch das Blut exponierten Organe errechnet sich mit diesem Modell zu 0,14 mSv/a pro 100 Bq/m³ [3]. Für Kinder ist die Dosis durch das Radon-Gas etwas geringer, da das rote Knochenmark bei ihnen weniger fetthaltig ist. Dies wird allerdings teilweise dadurch kompensiert, dass die Dosis durch kurzlebige Zerfallsprodukte von Radon für Kinder höher ist als für Erwachsene. Nimmt man also einen RBM-Dosiskoeffizienten von 0,3 mSv/a pro 100 Bq/m³ und eine mittlere Expositionszeit im Kindes- und Jugendalter von 5 Jahren an, so resultiert eine RBM-Organdosis von 1,5 mSv bei 100 Bq/m³. Zum Vergleich: Die Lungendosis durch inhaliertes Radon und seine Zerfallsprodukte beträgt für einen Erwachsenen etwa 75 mSv in 5 Jahren bei 100 Bq/m³ [16,18].



Das in der Arbeit ermittelte SIR von 1,29 (entspricht etwa einer Zunahme des Leukämie-Risikos um 29%) bei einer Erhöhung der Radon-Konzentration um 100 Bq/m³ erscheint außerordentlich hoch. Mit dem BEIR VII-Report [31] stehen Daten zur Abschätzung des relativen und des absoluten Risikos pro Dosis für Kinderleukämien zur Verfügung. Das relative Zusatzrisiko pro Dosis kann mit diesen Werten zu etwa 10/Sv errechnet werden. Mit der o.g. RBM-Organdosis von 1,5 mSv ergibt sich so ein relatives Zusatzrisiko (Excess Relative Risk, ERR) von 1,5%, d.h. ein SIR von 1,015 (1,5% Risikoerhöhung für Kinderleukämie bei 100 Bq/m³). Für den oberen Wert des 95%-Konfidenzintervalls (25/Sv) folgt ein ERR von 4%, entsprechend SIR=1,04.



Aus den Daten der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki, der sog. Life-Span-Study (LSS), sind Koeffizienten für das zusätzliche absolute Risiko für akute Kinderleukämie im Bereich von 0,01/Sv bis 0,02/Sv ermittelt worden [17,18,30]. Mit einem mittleren Risikokoeffizienten von 0,015/Sv und einer Dosis von 1,5 mSv ergibt sich demnach für eine Radon-Aktivitätskonzentration von 100 Bq/m³ eine Inzidenz von 2,3 pro 100.000 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahre (geschätzte beobachtete Fallzahl). Bei einer Inzidenzrate von 4,0×10-5/a und einem Altersbereich von 15 Jahren steht dem eine erwartete Inzidenz von 60 pro 100.000 gegenüber, was zu SIR=1,04 führt. Der in der Studie [1] ermittelte Risikowert ist also um den Faktor 20 größer als die Abschätzung mit den mittleren Werten des BEIR VII-Reports und immerhin noch um den Faktor 7 größer als mit den maximalen Werten bzw. den etwas gröberen Abschätzungen auf der Grundlage der LSS-Daten.





5
 Allgemeine Bewertung der Aussagekraft ökologischer Studien

Prinzipiell haben Ergebnisse aus ökologischen Studien nur eine sehr eingeschränkte Aussagekraft. Bei Studien dieses Typs werden Inzidenz- bzw. Mortalitätsraten verwendet ohne die Möglichkeit, individuelle Einflussgrößen oder Expositionen einzubeziehen. Es können keine personenbezogenen Daten betrachtet werden und somit liegen auch keine individuellen Expositionsdaten vor. Confounder sind nicht adäquat zu kontrollieren. Ob geographische Korrelationen auf unterschiedliche regionale Einflussgrößen, wie beispielsweise die ortsabhängige Radon-Konzentration in Wohnungen, zurückzuführen sind, kann auf der Grundlage einer ökologischen Studie nicht entschieden werden. Dies gilt umso mehr, da auch innerhalb kleiner geographischer Einheiten eine hohe Variation der Exposition vorhanden ist und der mittlere Wert einer Region eine unzureichende Schätzung der individuellen Exposition darstellt. Auf diese und weitere Probleme bei der Bewertung von ökologischen Studien ist die SSK bereits vielfach eingegangen [19-21].



Ökologische Analysen gelten als die schwächste Form der epidemiologischen Evidenz. Derartige Auswertungen führen häufig zu Ergebnissen und Interpretationen, die in individualbasierten Studien keine Bestätigung erfahren. Die Strahlenschutzkommission (SSK) betrachtet ökologische Studien aufgrund der erheblichen Problematik der Kontrolle von Confoundern und der Einbeziehung von Interaktionen auf dem Niveau der aggregierten Daten in der Regel als ungeeignet für die Untersuchung epidemiologischer Zusammenhänge. Risikoabschätzungen, die nur oder ganz wesentlich auf ökologischen Studien beruhen, sind nur in seltenen Ausnahmefällen aussagekräftig (Strahlenexposition ist der wesentliche Risikofaktor, es liegt eine große Anzahl kleinräumiger Expositionsmessungen vor, etc).



Trotz der vielfältigen Einschränkungen erhalten ökologische Studien oft erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit. Dies kann auch daran liegen, dass sie aufgrund der genannten Mängel in einigen Fällen Ergebnisse haben, die der Evidenz aus qualitativ guten Studien z. T. deutlich widersprechen und somit "neue" Hinweise liefern. Als Grundlage zur Bewertung ökologischer und anderer Studien hat die SSK "Kriterien zur Bewertung strahlenepidemiologischer Studien" [22] entwickelt, mit deren Hilfe die Aussagekraft von epidemiologischen Studien und insbesondere von ökologischen (deskriptiven) Studien beurteilt werden kann.





6
 Andere Studien / andere Studiendesigns

Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Auftreten von Kinderleukämie und der häuslichen Radon-Exposition sind international bereits eine Reihe von epidemiologischen Studien mit unterschiedlichen Ansätzen und Designs durchgeführt worden [4-12]. Dabei zeigten einige der ökologischen Studien eine eher positive Assoziation [5-9], während die vorliegenden Fall-Kontrollstudien keinen [10,11] oder sogar einen negativen [12] Zusammenhang ergaben. Die Studien mit ökologischem Ansatz sind vielfach kritisiert bzw. deren Ergebnisse sind als wenig belastbar eingestuft worden [4,11]. Gegenwärtig können sich Aussagen zum Zusammenhang von Kinderleukämien und Radon-Exposition lediglich auf zwei größere Fall-Kontrollstudien stützen [10,12], die beide keine positive Assoziation aufzeigen. Andere Fall-Kontrollstudien, die ebenfalls keinen Zusammenhang zeigen, weisen entweder eine zu kleine Fallzahl oder einen zu kleinen Expositionsunterschied (exponiert / nicht-exponiert) auf [11,23], um aussagekräftig zu sein.



Für Deutschland (Niedersachsen) existiert eine Fall-Kontrollstudie zu diesem Thema [11], die allerdings auf kleinen Fallzahlen beruht (82 Leukämiefälle und 209 Kontrollen) und niedrige Expositionswerte aufweist. Auch einige ökologische Studien zu allgemeinen regionalen Verteilungsmustern der Leukämiehäufigkeit bei Kindern wurden durchgeführt [24,25]. Insgesamt haben die beiden bisher vorliegenden belastbaren Studien keinen Hinweis auf einen Zusammenhang von Radonexposition und Kinderleukämie ergeben. Dies ist im Einklang mit den relativ geringen Expositionen des Knochenmarks und des Blutes durch Radon.





7
 Problematik einer möglichen ökologischen Studie in Deutschland

Die Strahlenschutzkommission empfiehlt, wie bereits in einer Reihe ähnlicher Fragestellungen zuvor, keine Durchführung einer Untersuchung zum Zusammenhang von Kinderleukämie und Radon-Exposition in Deutschland mit ökologischem Studienansatz.



In Deutschland existiert ein auch im internationalen Vergleich exzellent etabliertes Kinderkrebsregister, das mindestens seit 1987 für Westdeutschland und seit 1991 für Gesamtdeutschland mit sehr guter Vollständigkeit Inzidenzen verschiedener Formen von Kindheitskrebs registriert [26]. Die Daten sind personenbezogen und lassen sich den Wohnorten der Fälle zuordnen. Über verschiedene Überwachungsnetze und Messprogramme liegen für Deutschland kreisbezogene Expositionsdaten für Radon-Aktivitätskonzentrationen in Wohnräumen vor [27,28]. Auf dieser Datenbasis ließe sich durchaus eine ökologische Analyse mit ähnlicher Studienstruktur wie die französische Studie [1] auch für Deutschland durchführen.



Der arithmetische Mittelwert der Radon-Konzentration beträgt in Deutschland etwa 50 Bq/m³ und ist damit deutlich geringer als in Frankreich (88 Bq/m³). Wenn für Deutschland kein mit Expositionsdaten korrelierter zeitlicher Trend der Inzidenzraten unterstellt werden muss, kann praktisch der gesamte vom Deutschen Kinderkrebsregister registrierte Datenbestand für Kinderleukämien genutzt werden. Mit 325 Mio. beobachteten Personenjahren und etwa 12.700 Fällen (etwa 500 Fälle akuter Leukämie pro Jahr) steht damit fast die 2,5-fache Fallzahl im Vergleich zu [1] zur Verfügung (Die Inzidenzraten für ALL und AML sind in Frankreich und Deutschland sehr ähnlich). Trotz der guten Datenbasis sind mit der eher geringeren Bandbreite der Radon-Konzentrationen in Deutschland und mit den oben beschriebenen Abschätzungen zu der zu erwartenden Risikoerhöhung von etwa SIR=1,02 bis 1,04 bei 100 Bq/m³ allerdings kaum statistisch signifikante Abhängigkeiten zu erwarten.



Unabhängig jedoch von der Durchführbarkeit einer entsprechenden ökologischen Studie steht die Frage nach dem Erkenntnisgewinn, die eine solche Studie im optimalen Fall zu liefern in der Lage ist, im Mittelpunkt. Die Aussagekraft der Ergebnisse ökologischer Studien ist außerordentlich gering. Mit Vorliegen solcher Ergebnisse ist die Beurteilung eines Zusammenhangs zwischen einem Krankheitsgeschehen und dem Einwirken eines Agens bzw. einer Exposition in der Regel nicht besser möglich als ohne diese. Im besten Fall können auf deren Basis Hinweise auf Zusammenhänge postuliert und Arbeitshypothesen aufgestellt werden, denen dann in weiteren Studien mit anderem Studiendesign nachgegangen werden muss. Diese Zusammenhänge sind jedoch durch die bisherigen Studien zu diesem Thema bereits postuliert worden und können durch weitere ökologische Analysen nicht noch weiter erhärtet werden.





8
 Durchführung und Aussagekraft einer Fall-Kontrollstudie

Fall-Kontrollstudien sind ihrer Anlage nach typischerweise krankheitsbezogen gegliedert. Sie basieren auf einem Studienansatz mit Personenbezug und der Möglichkeit, analytisch ("konfirmativ") verschiedene Einflussgrößen oder Expositionen einzubeziehen. Die Anzahl der Fälle/Kontrollen kann meist variabel und damit begrenzt gewählt werden. Auf der Grundlage von Abschätzungen über die Größe eines zu erwartenden Effekts kann bei Vorgabe der Nachweisbarkeitswahrscheinlichkeit die zur Untersuchung notwendige Fallzahl festgelegt werden bzw. können bei vorgegebener Fallzahl Aussagen über die Nachweisbarkeitswahrscheinlichkeit gemacht werden ("Powerabschätzung").



Die Datenstruktur des Deutschen Kinderkrebsregisters mit personenbezogenen Datensätzen bildet prinzipiell eine für Fall-Kontrollstudien sehr gut geeignete Datenbasis. In Bezug auf den hier diskutierten Zusammenhang zwischen Radon-Exposition und Kindheitskrebs ist diese bereits in einer Studie für Niedersachsen [11] gezeigt worden. Problematisch und aufwendig ist allerdings die Ermittlung der Expositionsdaten [14]. Der hiermit verbundene Aufwand muss mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit, einen möglicherweise vorhandenen Effekt auch nachweisen zu können ("Power" der Studie), gerechtfertigt werden können.



Für eine einfache "Power"-Abschätzung kann folgendes Szenario entworfen werden: Es werden zwei Expositionsklassen betrachtet (exponiert und nicht exponiert bzw. gering und hoch exponiert). Mögliche Confounder, die einen statistischen Zusammenhang ergeben zwischen Radon-Exposition und anderen ortsabhängigen Parametern, die das Leukämierisiko bei Kindern beeinflussen können (beispielsweise bestimmte sozioökologische Größen) müssen berücksichtigt werden.



Unterscheiden sich die beiden Expositionsklassen in ihrer Radon-Aktivitätskonzentration um 100 Bq/m³, so ergibt sich nach obiger Abschätzung für die exponierte Gruppe ein Relatives Risiko (RR) von etwa 1,02 bis 1,04. Die für ein solches einfaches Szenario notwendigen Fallzahlen bei vorgegebener Nachweisbarkeitswahrscheinlichkeit ("Power") kann nach [29] berechnet werden. Für eine Power von 80% (2-seitiger Test, Signifikanzniveau 5%) wird demnach eine Fallzahl und Kontrollenzahl von je etwa 37.000 (RR=1,04) oder sogar 150.000 (RR=1,02) notwendig sein (mit einer angenommenen Expositions-Prävalenz von 30% [21]). Dies sind für eine Fall-Kontrollstudie exorbitant hohe Zahlen, die die Durchführung einer solchen Studie realistischerweise ausschließen. Selbst wenn ein Relatives Risiko von 1,29, wie in [1] beschrieben, vorläge, dann würden immerhin noch je 840 Fälle und Kontrollen mit einer Power von 80% zum Nachweis notwendig sein. Eine niedrigere Expositions-Prävalenz würde zu noch größeren Fallzahlen führen.



In der britischen Fall-Kontrollstudie [12] zu diesem Thema konnten 2.226 Fälle und 3.773 Kontrollen ausgewertet werden. Eine Studie in diesem Umfang könnte mit einer Power von 80% ein Relatives Risiko im Bereich von 1,15 nachweisen. Um dieses Relative Risiko zu erreichen, müssten bei einer angenommenen Erhöhung des Relativen Risikos um 0,04 pro 100 Bq/m³ (s.o.) die Fälle also einer Aktivitätskonzentration von etwa 400 Bq/m³ ausgesetzt sein. Ein solch hoher Unterschied der Radon-Konzentration kann aber in Deutschland bei der genannten Studiengröße nicht erreicht werden.



Auch wenn geeignete Matching-Strategien zu einer gewissen Reduzierung der notwendigen Fallzahlen führen könnten, würden unter realistischen Bedingungen die notwendigen Fallzahlen eher noch größer als die oben abgeschätzten sein. In Gesamt-Deutschland treten pro Jahr etwa 75 Fälle an kindlicher AML auf [26]. Selbst unter übertrieben optimistischen Bedingungen wären demnach kaum die notwendigen Fallzahlen für eine Fall-Kontrollstudie in Deutschland rekrutierbar. Sollten sich im Rahmen übergeordneter Initiativen Überlegungen zu einer internationalen Fall-Kontrollstudie ergeben, so empfiehlt die SSK, wegen des zu erwartenden außerordentlich großen Aufwands zunächst mittels einer Machbarkeitsstudie die Möglichkeiten und die Aussagekraft einer solchen Studie gründlich zu untersuchen.



Zusammenfassend lauten die Empfehlungen der SSK zu epidemiologischen Studien zum Zusammenhang von Kinderleukämien und natürlicher Radon-Exposition folgendermaßen:

-
Wegen der geringen Aussagekraft ökologischer Studien empfiehlt die SSK, in diesem Fall keine Untersuchung mit diesem Ansatz durchzuführen.
-
Aufgrund der zu erwartenden geringen Effekte und der daraus resultierenden notwendigen großen Fallzahlen hält die SSK eine Fall-Kontrollstudie zu dieser Thematik in Deutschland für nicht durchführbar.
-
Sollten sich Überlegungen zur Durchführung einer internationalen Fall-Kontrollstudie ergeben, so empfiehlt die SSK, zunächst in einer Machbarkeitsstudie die Möglichkeiten und die Aussagekraft einer solchen Studie zu untersuchen.




Literatur



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