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Arbeitszeitrechtliche Hinweise zu Ruhepausen mit Bereithaltungspflicht

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Arbeitszeitrechtliche Hinweise zu Ruhepausen mit Bereithaltungspflicht



D2.30105/16#19
Berlin, 23. Juni 2023



Anlässlich aktueller Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) gibt dieses Rundschreiben Hinweise zur Anwendung von § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 Arbeitszeitverordnung (AZV) und zur arbeitszeitrechtlichen Einordnung von Ruhepausen mit Bereithaltungspflicht.



1.
Zusammenfassung der Rechtsprechung


1.1.
Urteil des EuGH vom 9. September 2021 (C-107/19)

In einem Vorabentscheidungsverfahren zur Einordnung einer Pause mit Bereitschaftsregelung stellte der EuGH klar, dass Bereitschaftszeit für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG) entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen ist. Der Begriff der „Bereitschaft“ umfasst dabei allgemein sämtliche Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um auf dessen Verlangen eine Arbeitsleistung erbringen zu können.



Eine Ruhepause unter Bereithaltung ist als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie zu qualifizieren, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der relevanten Umstände ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während dieser Ruhepause auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine Möglichkeit beschränken, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen. Im Rahmen der konkreten Würdigung sind nicht nur auferlegte Einschränkungen, sondern auch während der Bereitschaftszeit gewährte Erleichterungen zu berücksichtigen. Nicht einzubeziehen sind hingegen diejenigen Beschränkungen, die sich zwangsläufig aus der kurzen Dauer jeder Ruhepause ableiten und daher unabhängig von der Bereithaltungspflicht bestehen.



Die vorgenannte Rechtsprechung gilt auch für Beamtinnen und Beamte, die unter den Begriff der „Arbeitnehmer“ im Sinne der RL 2003/88/EG fallen.



1.2.
Urteile des BVerwG vom 13. Oktober 2022 (2 C 7.21 und 2 C 24.21)


1.2.1
Arbeitszeitrechtliche Einordnung von Ruhepausen mit Bereithaltung

Anknüpfend an die Rechtsprechung des EuGH stellte das BVerwG fest, dass Pausenzeiten unter Bereithaltungspflicht nicht automatisch Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG darstellen, sondern vielmehr eine Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist.



Zu den zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls gehören

die Auswirkung der Reaktionsfrist,
die Häufigkeit möglicher Unterbrechungen der Ruhepausen und
die Unvorhersehbarkeit möglicher Unterbrechungen der Ruhepausen, die eine zusätzliche beschränkende Wirkung auf die Möglichkeit des Beamten oder der Beamtin haben kann, die Zeit frei zu gestalten. Die sich daraus ergebende Ungewissheit kann ihn oder sie in „Daueralarmbereitschaft“ versetzen.


Die den Ruhepausen immanenten Einschränkungen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sind bei der Gesamtwürdigung außer Acht zu lassen. Mit einer Ruhepause von 30 bis 45 Minuten geht unvermeidlich einher, dass sich die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vor dem Hintergrund
der absehbaren Wiederaufnahme des Dienstes anders darstellen als bei Ruhezeiten nach Beendigung der Arbeit.



Beispiel 1 (BVerwG 2 C 7.21):
Den als Personenschützer eingesetzten Kläger traf die Verpflichtung, im Bedarfsfall eine Pause zu beenden und sofort, d.h. ohne zeitliche Verzögerung, den Dienst wiederaufzunehmen. Die Ungewissheit möglicher Pausenunterbrechungen, mögen sie auch selten oder die absolute Ausnahme sein, versetzten den Kläger in eine Art “Daueralarmbereitschaft”. Diese Umstände haben den Kläger objektiv gesehen ganz weitgehend davon abgehalten, die Ruhepausen im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit (30 oder 45 Minuten) nach freiem eigenen Belieben verbringen zu können und waren mithin als Arbeitszeit zu qualifizieren. Gegebenenfalls bestehende pausenähnliche Leerlaufzeiten während des Dienstes waren nicht als Erleichterung in die Gesamtwürdigung einzustellen, da sie nicht regelhaft gewährt wurden, sondern zufällig nach den jeweiligen Gegebenheiten des Dienstes entstanden.



Beispiel 2 (BVerwG 2 C 24.21):
Die Ruhepausen des Klägers waren dadurch gekennzeichnet, dass er Einsatzkleidung trug, Dienstwaffe und Dienstfahrzeug mitführte und seine ständige Erreichbarkeit sicherstellen musste. Die Verpflichtung zum Tragen von Einsatzkleidung sowie zum Mitführen von Dienstwaffe und Dienstfahrzeug genügt für sich betrachtet nicht, um eine objektiv ganz erhebliche Beschränkung anzunehmen. Hingegen unterliegt die Pausengestaltung durch die zusätzliche Verpflichtung zur ständigen Erreichbarkeit objektiv gesehen ganz erheblichen Einschränkungen, die dem mit der Gewährung einer Ruhepause verfolgten Erholungszweck zuwiderläuft und die betroffene Person aufgrund der Unvorhersehbarkeit möglicher Unterbrechungen in eine “Daueralarmbereitschaft” versetzt. Dies gilt jedenfalls bei Maßnahmen der unmittelbaren präventiven oder repressiven Gefahrenabwehr, bei denen es in der Sachgesetzlichkeit der übertragenen Aufgabe liegt, dass die dienstliche Tätigkeit alsbald bzw. unverzüglich wieder aufzunehmen ist und ihr folglich ein Gepräge des “Sich-Bereit-Haltens” innewohnt.



1.2.2
Bewertung der nationalen Rechtslage (§ 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 AZV)

Das BVerwG stellte fest, dass § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 AZV über die Anrechnung von Ruhepausen auf die Arbeitszeit mit dem unionsrechtlichen Begriffsverständnis von Arbeitszeit i. S. d. Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG nicht zu vereinbaren ist, weil die Anrechnung unter dem Vorbehalt ihrer Zulassung durch die zuständige Behörde gestellt und von dem Vorliegen besonderer Einsatzlagen abhängig gemacht wird. Im Ergebnis verstößt die Regelung gegen Unions- und Bundesrecht und hat deshalb außer Anwendung zu bleiben.



2.
Umsetzungshinweise für die Praxis

In Umsetzung der o.g. Rechtsprechung und im Vorgriff auf eine Rechtsänderung der AZV hat der Anrechnungstatbestand gemäß § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 AZV außer Anwendung zu bleiben. Es obliegt den Dienststellen im Einzelfall zu bewerten, ob sich aus einer Gesamtwürdigung der relevanten Umstände ergibt, dass die dem Beamten oder der Beamtin auferlegten Einschränkungen während der Pausenzeit von solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine oder ihre Möglichkeiten beschränken, die Zeit frei zu gestalten. Dabei sind die durch die Rechtsprechung aufgeführten Kriterien und Hinweise zur Gesamtwürdigung heranzuziehen.



Die Feststellungen des BVerwG zur Unions- und Bundesrechtswidrigkeit von § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 AZV sind seit dem 6. Januar 2023 durch Übermittlung der Urteilsgründe zur Rechtssache 2 C 7.21 bekannt. Mit positiver Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der Norm ist diese außer Anwendung zu lassen. Beamtinnen und Beamte können eine Anrechnung von nicht als Arbeitszeit anerkannten Ruhepausen mit Bereithaltungspflicht geltend machen. Die Dienststellen haben in diesem Fall anhand der vom BVerwG aufgestellten Kriterien im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu prüfen, ob der Zeitraum als Arbeitszeit zu qualifizieren ist.



Bereits aufgrund von § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 AZV auf die Arbeitszeit angerechnete Ruhepausen bleiben als solche anerkannt und bedürfen keiner neuen Überprüfung.



Für die Durchführung der o.g. Gesamtwürdigung können den Dienststellen bereichsspezifische Bewertungshilfen an die Hand gegeben werden. Hierzu zählen typisierende Betrachtungen, beispielsweise zu in der Regel betroffenen Beschäftigtengruppen. Diese müssen auf den vom BVerwG entwickelten Abgrenzungskriterien aufsetzen und Abweichungen aufgrund der Umstände des Einzelfalls zulassen.



Die Ruhepausenanrechnung nach § 5 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 AZV bleibt unberührt.