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Bekanntmachung einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission (Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen mit Freisetzung von Radionukliden - vom 13. Februar 2014)

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Bekanntmachung
einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission
(Radiologische Grundlagen für Entscheidungen
über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen
mit Freisetzung von Radionukliden – vom 13. Februar 2014)



Vom 19. September 2014



Fundstelle: BAnz AT 18.11.2014 B5



Nachfolgend wird die Empfehlung der Strahlenschutzkommission (SSK), verabschiedet in der 268. Sitzung der Kommission am 13./14. Februar 2014, bekannt gegeben.



Bonn, den 19. September 2014
RS II 2 - 17027/2



Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit



Im Auftrag
Dr. Böttger





Radiologische Grundlagen für Entscheidungen
über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Ereignissen
mit Freisetzungen von Radionukliden



Empfehlung der Strahlenschutzkommission
Verabschiedet in der 268. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 13./14. Februar 2014



Vorwort zur überarbeiteten Fassung



Bei der vorausgegangenen Fassung der Radiologischen Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden von 2009 handelte es sich um eine redaktionelle Überarbeitung der gleichnamigen Veröffentlichung aus dem Jahr 1999. Im Zuge dieser eher formalen Anpassung hatte die SSK eine weitergehende Überprüfung dahingehend angeregt, ob neuere wissenschaftliche Erkenntnisse und internationale Weiterentwicklungen eine inhaltliche Überarbeitung erfordern. Daraufhin wurde das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) mit dieser Prüfung und der Erstellung einer Entwurfsfassung beauftragt. Nach dieser Vorarbeit wurde die SSK in 2009 durch das BMU gebeten, ausgehend von dieser im BfS erstellten Entwurfsfassung die Prüfung und Überarbeitung zu vertiefen. Dabei waren insbesondere die neuen grundlegenden Empfehlungen zum Strahlenschutz der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), die 2007 als ICRP 103 publiziert worden waren, darauf basierende Konkretisierungen für die Praxis sowie auch weitere internationale Entwicklungen des radiologischen Notfallschutzes einzubeziehen. Hierzu zählen mehrere weitere Empfehlungen der ICRP, die ausgehend von den grundlegenden Empfehlungen der ICRP 103 ausführlichere Vorschläge für die praktische Umsetzung beinhalten, weiterhin die von der International Atomic Energy Agency (IAEA) koordinierte Überarbeitung und 2011 als Interimsfassung publizierten „Basic Safety Standards“ auf dem Gebiet des Strahlenschutzes und der Sicherheit von Strahlungsquellen. Auch die Entwicklung der neuen Euratom-Richtlinie zum Strahlenschutz ist in Betracht gezogen worden. Diese ist jedoch abschließend erst im Januar 2014 veröffentlicht worden. Die in den kommenden vier Jahren zu leistende Umsetzung dieser Richtlinie in deutsches Strahlenschutzrecht kann ein Anlass werden für konzeptionelle Weiterentwicklungen oder Konkretisierungen dieser Radiologischen Grundlagen.



Auch der Reaktorunfall in Fukushima, Japan, gab Anlass, dass sowohl national und international dessen Krisenbewältigung und die damit verbundenen radiologischen Konsequenzen eingehend analysiert worden sind. Beide Gesichtspunkte sind im Hinblick auf naheliegende Berücksichtigung bei der Überarbeitung der Radiologischen Grundlagen einbezogen worden.





Inhaltsverzeichnis



1

Einführung

1.1

Grundlage und Zweckbestimmung

1.2

Bezug zu internationalen Empfehlungen und Vorgaben

1.3

Übersicht

2

Unfallphasen und Expositionspfade

3

Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition

3.1

Dosisbegriffe

3.2

Strahlenwirkungen: Stochastische Effekte

3.3

Strahlenwirkungen: Deterministische Effekte

3.4

Wirkungen einer Bestrahlung während der vorgeburtlichen Entwicklung

4

Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung

4.1

Maßnahmen und ihre Wirksamkeit

4.2

Grundsätze für die Planung und Einleitung von Maßnahmen im Ereignisfall

4.3

Konzept für die Festlegung von Referenzwerten und Eingreifrichtwerten

4.4

Eingreifrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen

4.4.1 

Aufenthalt in Gebäuden

4.4.2 

Einnahmen von lodtabletten

4.4.3 

Evakuierung

4.4.4 

Kombination früher Schutzmaßnahmen

4.4.5

Temporäre und langfristige Umsiedlung

4.4.6

Eingriffe in die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln

4.5

Abgeleitete Richtwerte

5

Entscheidungsfindung im Ereignisfall

5.1

Einflussfaktoren

5.2

Entscheidungsfindung

5.3

Methodische Hilfsmittel

6

Andere radiologische Notfallsituationen nach erheblicher Freisetzung radioaktiver Stoffe

7

Strahlenschutz der Einsatzkräfte

7.1

Aufgaben der Einsatzkräfte

7.1.1 

Lebensrettende Maßnahmen

7.1.2 

Maßnahmen zur Abwehr einer Gefahr für die Bevölkerung sowie zur Verhinderung einer Schadensausweitung bei Freisetzungsereignissen in einer kerntechnischen Anlage

7.1.3 

Frühe Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung

7.1.4

Entscheidung über längerfristige Maßnahmen zum Schutz von Infrastruktur und Sachwerten

7.1.5

Allgemeine Aufgaben

7.2

Einsatzbedingungen von Personal zur Bewältigung von anderen Ereignissen mit Freisetzung radioaktiver Stoffe

8

Strahlenschutz besonderer Berufsgruppen



Literatur



Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen



Anhang



Verwendung von Jodtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei einem kerntechnischen Unfall
Empfehlung der SSK, Februar 2011





1 Einführung



1.1 Grundlage und Zweckbestimmung



Deutsche Kernkraftwerke verfügen über Sicherheitseinrichtungen sowie vorgeplante Maßnahmen, die das Eintreten eines kerntechnischen Unfalls mit relevanten radiologischen Auswirkungen in der Umgebung praktisch ausschließen sollen. Zu einem solchen Ereignisablauf könnte es nur dann kommen, wenn die vorhandenen, mehrfach gestaffelten Sicherheitsmaßnahmen nicht greifen sollten und die zusätzlichen Maßnahmen zur Verhinderung schwerer Kernschäden und zur Eindämmung ihrer radiologischen Folgen nicht erfolgreich wären. Für diesen Fall werden Notfallschutzplanungen für die Umgebung von Kernkraftwerken erarbeitet.



Bei einer drohenden, stattfindenden oder bereits abgeschlossenen Freisetzung von Radionukliden nach Eintritt eines kerntechnischen Unfalls oder Freisetzungen durch andere Unfälle oder böswillige Handlungen können Maßnahmen des Katastrophenschutzes und der Strahlenschutzvorsorge erforderlich werden. Beide Typen von Maßnahmen werden unter dem Begriff Notfallschutzmaßnahmen zusammengefasst. Ihr gemeinsames Ziel ist es, die Strahlenexposition des Menschen zu reduzieren, um schwerwiegende deterministische Effekte zu vermeiden und stochastische Effekte auf der Grundlage der Verhältnismäßigkeit zu minimieren.



Grundlage von Maßnahmen des Katastrophenschutzes sind die entsprechenden Gesetze der Länder. Bei kerntechnischen Unfällen erfolgt die Planung und Durchführung derartiger Maßnahmen in Anlehnung an die „Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen“ (BMU 2008a). Der Vollzug des Strahlenschutzvorsorgegesetzes (BMU 2008b) wird durch die Länder in Bundesauftragsverwaltung durchgeführt, soweit nicht (z.B. im Bereich großräumiger Überwachung der Umweltradioaktivität) bundeseigene Verwaltungsbehörden tätig werden.



Unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit sind die gesicherten Erkenntnisse des Strahlenschutzes sowie die nationalen, europäischen und internationalen Erfahrungen und Empfehlungen auf dem Gebiet des Notfallschutzes eine wesentliche Grundlage der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor unfallbedingter oder durch böswillige Handlungen verursachter Strahlenexposition in Deutschland. Die vorliegenden „Radiologischen Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden“, im folgenden Text kurz „Radiologische Grundlagen“ genannt, ersetzen die Fassung aus dem Jahre 2008 (SSK 2008a). Die Radiologischen Grundlagen richten sich an die mit der Planung von Maßnahmen des Notfallschutzes befassten Stellen.



Die Radiologischen Grundlagen basieren auf dem strahlenepidemiologischen und strahlenbiologischen Wissen, besonders hinsichtlich der Dosis-Risiko- und Dosis-Wirkungs-Beziehungen für stochastische bzw. deterministische Effekte, und einem Vergleich der durch ein Freisetzungsereignis bedingten Strahlenexposition mit der Höhe und der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition der Bevölkerung, summiert über die Lebenszeit. Um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen, wird außerdem die Schwere des Eingriffs der verschiedenen Maßnahmen in das persönliche Leben berücksichtigt. Als übergeordnetes radiologisches Ziel werden in Übereinstimmung mit neueren Konzepten der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP 2007) Referenzwerte der verbleibenden Dosis infolge einer entstandenen Notfallsituation eingeführt und begründet. Sie beziehen sich im Allgemeinen auf die effektive Dosis, die eine Person in der Folgezeit (meist im ersten Jahr) unter realistischen Annahmen erhält, wobei Schutzmaßnahmen und gängige Verhaltensweisen einbezogen werden. Für eine schnelle Umsetzung von konkreten Schutzmaßnahmen in der Frühphase eines drohenden oder bereits erfolgenden oder erfolgten Freisetzungsereignisses werden Eingreifrichtwerte wie in den bisherigen Radiologischen Grundlagen verwendet. Bei Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit zwischen dem gesundheitlichen Risiko einer Strahlenexposition und der mit den einzelnen Schutzmaßnahmen verbundenen Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben werden Dosiswerte als Eingreifrichtwerte zu jeder der frühen Maßnahmen nämlich „Aufenthalt in Gebäuden“, „Einnahme von Iodtabletten“ und „Evakuierung“ (maßnahmenspezifische Eingreifrichtwerte) quantitativ festgelegt. Für Entscheidungen über die spätere Schutzmaßnahme einer „vorübergehenden oder längerfristigen Umsiedlung“ ist der Referenzwert der verbleibenden Dosis im ersten Jahr maßgeblich. Im Ereignisfall kommen bei der Entscheidungsfindung über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu den so definierten radiologischen Grundlagen weitere Gesichtspunkte hinzu. Dazu gehören Einflussfaktoren, die erst im Ereignisfall bekannt – z.B. die Charakteristika des betroffenen Gebietes und die Durchführbarkeit von Maßnahmen – oder nur schwer quantifizierbar sind, wie z.B. Reaktionen der Bevölkerung oder sozio-psychologische Aspekte. Die in den Radiologischen Grundlagen dargestellten Referenzwerte der verbleibenden Dosis, Eingreifrichtwerte und die ereignisspezifischen Einflussfaktoren bilden in ihrer Gesamtheit die Grundlagen der Entscheidungsfindung für die Planung von Maßnahmen im Ereignisfall. Die Radiologischen Grundlagen umfassen nicht die konkrete Ausgestaltung des Planungsprozesses einschließlich der dazugehörigen Optimierung.



1.2 Bezug zu internationalen Empfehlungen und Vorgaben



In der jüngeren Vergangenheit sind international konzeptionelle Weiterentwicklungen und Präzisierungen zum radiologischen Notfallschutz erfolgt. Sie basieren ganz wesentlich auf den Empfehlungen von 2007 der Internationalen Strahlenschutzkommission in ICRP 103 (ICRP 2007). Diese tragen grundlegenden Weiterentwicklungen zum Strahlenschutz seit der vorangegangenen Publikation ICRP 60 (ICRP 1991) Rechnung und beinhalten insbesondere den Übergang von einem verfahrensbezogenen Schutzansatz, der von Tätigkeiten und Interventionen ausging, zu einem Ansatz, der auf der jeweils vorliegenden Expositionssituation basiert. Bei diesem neu entwickelten Konzept wird zwischen einer geplanten, im regulierten Bereich liegenden Expositionssituation sowie zwischen Notfall-Expositionssituationen und bestehenden Expositionssituationen unterschieden. Für die beiden letztgenannten Expositionssituationen besteht somit ein enger Bezug zu den hier behandelten Radiologischen Grundlagen. Auf diesen Bezug und auf wichtige durch die ICRP neu eingeführte bzw. präzisierte Begriffe wird im Folgenden eingegangen.



Die mit ICRP 103 neu eingeführten Konzepte für Expositionssituationen, die sich aus einem radiologischen Notfall ergeben – entweder in der als Notfall-Expositionssituation bezeichneten Phase oder einer späteren infolge des ursprünglichen Ereignisses als bestehende Expositionssituation einzustufenden Phase –, sind in den nachfolgenden Publikationen ICRP 109 (ICRP 2009a) und ICRP 111 (ICRP 2009b) näher erläutert und im Hinblick auf eine Umsetzung in der Praxis eingehender behandelt worden. Dabei wird auch auf den in der Regel orts- und zeitabhängigen Übergang von einer Notfall- zu einer bestehenden Expositionssituation eingegangen. Bestehende Expositionssituationen können auch die Folge von früheren Betätigungen wie Uranbergbau oder besonderen geologischen oder durch menschliche Eingriffe verursachten erhöhten Expositionsbedingungen sein, die jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht in Betracht zu ziehen sind.



Die grundlegenden Empfehlungen der ICRP 103 und der ergänzenden Publikationen ICRP 109 und ICRP 111 liegen den als Interimsfassung vorliegenden International Basic Safety Standards der IAEA zugrunde (IAEA 2011). Darin werden ausgehend von den Empfehlungen der ICRP Anforderungen spezifiziert für die Anwendung in der Praxis. Komplementär zu diesen für alle Mitgliedstaaten der IAEA geltenden generellen Sicherheitsanforderungen ist die für alle EU-Staaten verbindliche Euratom-Richtlinie zur Festlegung grundlegender Sicherheitsnormen für den Schutz vor den Gefahren einer Exposition gegenüber ionisierender Strahlung veröffentlicht worden (Euratom 2014), die bezüglich des radiologischen Notfallschutzes dieselben Begriffe verwendet und ganz analoge Anforderungen stellt.



Zur Illustrierung und weiteren Diskussion des Bezugs der Radiologischen Grundlagen zu den aktuellen internationalen Anforderungen zum radiologischen Notfallschutz werden hier in Anlehnung an ICRP 103, die Interimsversion der Basic Safety Standards der IAEA (IAEA 2011) sowie die Richtlinie 2013/59/Euratom (Euratom 2014) die Anforderung zur Vorbereitung (preparedness) und Reaktion (response) auf eine Notfallsituation aufgeführt:



Die zuständigen Behörden sollen sicherstellen, dass Schutzstrategien für Notfall-Expositionssituationen im Rahmen der Notfallvorsorge vorab entwickelt, gerechtfertigt und optimiert und im Ereignisfall zeitgerecht umgesetzt werden. Dazu sollen angemessene Reaktionen auf eine Notfall-Expositionssituation anhand postulierter Ereignisse und entsprechender Szenarien auf der Grundlage von Gefährdungsanalysen geplant werden mit dem Ziel, schwerwiegende deterministische Effekte zu vermeiden und die Wahrscheinlichkeit von stochastischen Effekten infolge einer Exposition der Bevölkerung zu verringern. Wesentliche Schritte bei der Entwicklung einer Schutzstrategie sind insbesondere die hier aufgeführten drei aufeinander folgenden Bestandteile:



Es wird ein Referenzwert der verbleibenden Dosis festgelegt, der sich vornehmlich auf die effektive Dosis bezieht und Dosisbeiträge über alle Expositionspfade (Inhalation, externe Strahlung, Ingestion) berücksichtigt. Für radiologisch schwerwiegende Ereignisse kann als Referenzwert der effektiven Dosis in der Folgezeit von einem Jahr ein oberer Wert von 100 mSv festgelegt werden. Als typischer Wertebereich für die im Rahmen der Notfallplanung festzulegende verbleibende Dosis wird 20 mSv bis 100 mSv im ersten Jahr vorgeschlagen (ICRP 103), wobei für die Festlegung eines Referenzwerts die erwartbare Schwere der radiologischen Folgen zu berücksichtigen ist. Für die in der Planung zu entwickelnde Schutzstrategie gilt, dass die verbleibende Dosis bei Exposition der Bevölkerung in Bezug auf die Zahl exponierter Personen und die Höhe der individuellen Dosen sowohl oberhalb als auch unterhalb des Referenzwerts so niedrig gehalten wird, wie es unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktoren vernünftigerweise erreichbar ist („ALARA-Prinzip“, as low as reasonably achievable). An die zu entwickelnde Schutzstrategie wird die Forderung gestellt, dass sie optimiert wird.


Auf der Grundlage der Ergebnisse der optimierten Schutzstrategie bei Anwendung des Referenzwerts der verbleibenden Dosis sollen allgemeine Kriterien für bestimmte Schutzmaßnahmen und andere Maßnahmen, ausgedrückt als zu erwartende Dosis oder bereits erhaltene Dosis entwickelt werden. Zu allgemeinen Kriterien zählen insbesondere Eingreifrichtwerte für Schutzmaßnahmen. Falls diese Kriterien vorhersehbar erreicht oder überschritten werden, sollen die entsprechenden Schutzmaßnahmen oder Maßnahmen einzeln oder in Kombination umgesetzt werden.


Nachdem die Schutzstrategie optimiert und eine Reihe von allgemeinen Kriterien für Schutzmaßnahmen und andere Maßnahmen entwickelt worden sind, sollen daraus im Voraus festgelegte Auslösekriterien zur Einleitung der verschiedenen Maßnahmen eines Notfallplans – in erster Linie für die Dringlichkeitsphase eines Ereignisses – abgeleitet werden. Diese Standard-Trigger sollen in Form von Parametern und beobachtbaren Bedingungen des Anlagenzustands (englisch: emergency action levels, EAL) oder als abgeleitete Richtwerte (englisch: operational intervention levels, OIL) ausgedrückt werden. Abgeleitete Richtwerte können sich beispielsweise auf Dosisleistungen, Kontaminationsniveaus von Boden- und anderen Oberflächen oder Aktivitätskonzentrationen in der Umwelt oder in Nahrungsmitteln beziehen. Solche Richtwerte sollten vorab zur Verfügung stehen, sie können im weiteren Verlauf eines radiologischen Notfalls an die sich ändernden Bedingungen angepasst werden.


Generell gilt, dass nicht nur die Schutzstrategie insgesamt, sondern auch jede einzelne Schutzmaßnahme gerechtfertigt sein soll, d. h. mit ihr soll mehr Nutzen als Schaden bewirkt werden.



Zur Verdeutlichung des Bezuges der vorliegenden Radiologischen Grundlagen zu den wesentlichen, hier aufgeführten Anforderungen bei der Planung und Durchführung von Notfallschutzmaßnahmen wird zunächst auf einige neu eingeführte oder in diesem Zusammenhang präzisierte Begriffe eingegangen:



Für Notfall-Expositionssituationen sind Schutzstrategien auf der Grundlage von Gefährdungsanalysen mit Hilfe von postulierten und analysierten Szenarien vorzuplanen. Eine umfassende Schutzstrategie zielt auf eine Optimierung der durchzuführenden Schutzmaßnahmen, indem alle relevanten Expositionspfade und alle Schutzoptionen bei der Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dabei hat sich an der übergeordneten Zielsetzung des radiologischen Notfallschutzes – Vermeidung schwerwiegender deterministischer Effekte und Verringerung der Wahrscheinlichkeit stochastischer Effekte – nichts geändert.



Zu dieser angesprochenen Präzisierung gehört auch die Einführung oder genauere Interpretation von zentralen Begriffen, die hier erläutert werden:



Verbleibende Dosis (residual dose): Unter der verbleibenden Dosis oder zu erwartenden verbleibenden Dosis wird diejenige Dosis verstanden, die eine Person als Folge eines radiologischen Ereignisses letztlich erhält oder erwartungsgemäß erhält, wenn man die Wirkung getroffener Schutzmaßnahmen berücksichtigt. Bis auf spezielle Fälle, bei denen eine Organdosis maßgeblich ist, bezieht sich die verbleibende Dosis auf die effektive Dosis in einem Jahr. In der Regel setzt sich die im betrachteten Zeitraum verbleibende Dosis zum Zeitpunkt über Maßnahmenentscheidungen aus einer bereits erhaltenen Dosis und der noch bis zum Ende des Zeitintervalls zu erwartenden Dosis zusammen. Bei der Ermittlung einer verbleibenden Dosis sind auch gängige Verhaltensweisen von betrachteten repräsentativen Personen (siehe unten) einzubeziehen. Das gilt insbesondere für die zu erwartende verbleibende Dosis bei Entscheidungen über längerfristige Schutzmaßnahmen in einer späteren Phase eines Ereignisses, in der die radiologische Lage durch Messungen, etc. genauer erfasst worden ist. Die Referenzwerte für Notfall- und für bestehende Expositionssituationen beziehen sich auf die verbleibende Dosis als Summe über alle Expositionspfade über Inhalation, externe Strahlung und Ingestion (Nahrungsaufnahme). Der Bezugszeitraum bei der Bestimmung der verbleibenden Dosis bei einer Notfall-Expositionssituation ist in der Regel das erste Jahr nach dem Ereignis, falls die Expositionsdauer nicht auf kürzere Zeiten beschränkt ist. Nach Erfassung der entstandenen radiologischen Lage kann der vorab festgelegte Referenzwert der verbleibenden Dosis für nachfolgende Schutzmaßnahmen entsprechend angepasst werden. Wenn innerhalb des ersten Jahres für bestimmte Gebiete der behördlich bestimmte Übergang von einer Notfall- auf eine bestehende Exposition erfolgt, so würde damit häufig auch ein Übergang zu einem niedrigeren Referenzwert für die verbleibende Dosis pro Jahr verbunden sein. Dessen Festlegung soll einem sorgfältigen Abwägungsprozess unterliegen, der sowohl die vorliegende und zu erwartende zukünftige radiologische Lage unter Einbeziehung von Schutzmaßnahmen berücksichtigt als auch Vorstellungen und Belange der betroffenen Bevölkerung.



Zu erwartende Dosis (projected dose): Die Dosis, die man erwartet, wenn keine Schutzmaßnahmen erfolgen. Die zu erwartende Dosis stellt eine wichtige Entscheidungsgrundlage dar für zu erwägende Schutzmaßnahmen und ist insbesondere für die Dringlichkeitsphase von Bedeutung, in der häufig noch keine zuverlässigen Informationen über drohende oder bereits erfolge Freisetzungen radioaktiver Stoffe und die zu befürchtende oder eingetretene radiologische Lage zur Verfügung stehen. Bei der Bestimmung der zu erwartenden Dosis können jedoch gängige Verhaltensweisen repräsentativer Personen der Bevölkerung berücksichtigt werden. Wichtig ist dabei, dass solche Annahmen spezifiziert werden. Der Bezugszeitraum hängt von der Art der infrage stehenden Schutzmaßnahme ab. Bei der Entscheidung über Maßnahmen wie „Aufenthalt in Gebäuden“ oder „frühzeitige Evakuierung“ bezieht sich die zu erwartende Dosis auf wenige Tage, bei der Entscheidung über „vorübergehende oder langfristige Umsiedlung“ auf längere Zeiten.



Vermeidbare Dosis (averted dose): Diejenige Dosis, die durch Umsetzung von Schutzmaßnahmen abgewendet/vermieden werden kann. Sie entspricht der Differenz zwischen der zu erwartenden Dosis, wenn keine Schutzmaßnahmen erfolgen, und der (erwarteten) verbleibenden Dosis.



Repräsentative Person: Berechnete oder geeignet ermittelte Dosen bei Notfall-Expositionssituationen oder bestehenden Expositionssituationen beziehen sich auf den Schutz von Bevölkerungsgruppen. ICRP 101 (ICRP 2005) hat dazu den Begriff der „repräsentativen Person“ eingeführt, der die früher verwendete „kritische Personengruppe“ ersetzt. Eine repräsentative Person steht stellvertretend für eine Bevölkerungsgruppe mit vergleichbaren Eigenschaften hinsichtlich der Expositionsbedingungen, der erhaltenen Dosis und der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken. Insbesondere sollen dadurch auch Personengruppen erfasst werden, die in Bezug auf erhaltene Dosen und ihre Strahlenempfindlichkeit ungünstige Bedingungen und Eigenschaften aufweisen, jedoch keinesfalls extreme. Die jeweils durch eine repräsentative Person erfassten Personengruppen sind dabei im Hinblick auf ihre Strahlenexposition durch ihre physiologischen Eigenschaften und angenommenen Verhaltensweisen zu charakterisieren. Im Sinne einer vorsichtigen aber nicht überzogenen Festlegung von Eigenschaften einer repräsentativen Person mittels quantifizierter Parameter, z.B. für die Ernährungsgewohnheiten, schlägt ICRP 101 die Orientierung an einem 95 Perzentilwert vor. Dieses hohe Perzentil soll sich jedoch bei mehreren Einflussgrößen nicht auf einen einzelnen Parameter sondern auf das Gesamtergebnis der ermittelten Dosis für die jeweilige repräsentative Person beziehen. Bei Notfall- und bestehenden Expositionssituationen sind neben Erwachsenen und Kindern auch Schwangere im Hinblick auf die höhere Strahlenempfindlichkeit während der vorgeburtlichen Entwicklung von Embryo und Fetus als „repräsentative Person“ zu betrachten.



Allgemeine Kriterien für Schutzmaßnahmen: Als Bestandteil einer bei der Notfallplanung entwickelten Schutzstrategie sollen allgemeine Kriterien für einzelne oder in Kombination durchzuführende Schutzmaßnahmen insbesondere für die Dringlichkeitsphase einer Notfallsituation entwickelt werden. Sie basieren auf der zu erwartenden Dosis, bei deren Bestimmung keine Schutzmaßnahmen angenommen werden. Es können dabei aber gängige Verhaltensweisen der betroffenen Bevölkerung wie typische Aufenthaltsdauern in Häusern etc. berücksichtigt werden. Solche allgemeinen Kriterien (generic criteria) entsprechen den Eingreifrichtwerten für bestimmte Schutzmaßnahmen, die in diesen Radiologischen Grundlagen eingehend behandelt werden. Deren zugeordnete Dosiswerte werden unter den Bedingungen eines schwerwiegenden radiologischen Ereignisses wie eines Kernkraftwerksunfalls aus Sicht des Strahlenschutzes und im Einklang mit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit bei Berücksichtigung der Gesamtumstände ausführlich begründet. Falls diese Kriterien für Schutzmaßnahmen (Eingreifrichtwerte der Radiologischen Grundlagen) überschritten werden, sollen die entsprechenden Schutzmaßnahmen oder Maßnahmen einzeln oder in Kombination umgesetzt werden.



Diesen Eingreifrichtwerten oder den Eingreifwerten (siehe Abschnitt 4.3), die bei einer Notfall-Expositionssituation zur Anwendung kommen, ist der vorab festgelegte Referenzwert der verbleibenden Dosis übergeordnet. Eingreifrichtwerte sind somit als wichtige Bestandteile einer bei der Notfallplanung zu entwickelnden optimierten Schutzstrategie anzusehen.



Übergang zu einer bestehenden Situation: Für die Zeit nach einem behördlich deklariertem späteren Übergang von einer Notfall- zu einer bestehenden Expositionssituation sind ebenfalls Schutzstrategien zu entwickeln. Diese werden oft im interaktiven Prozess und schrittweise über längere Zeitdauern konzipiert und umgesetzt. Als Bereich zur Festlegung eines Referenzwerts für eine bestehende Expositionssituation, die nach dem gegebenenfalls zeit- und ortsabhängigen Übergang von einer Notfall-Expositionssituation vorliegt, wird von der ICRP (ICRP 2007), der IAEA (IAEA 2011) und in der Richtlinie 2013/59/Euratom (Euratom 2014) eine Bandbreite zwischen 1 mSv und 20 mSv pro Jahr für die verbleibende Dosis vorgeschlagen mit der Maßgabe, dass im Laufe der Zeit Werte im Bereich von 1 mSv/a anzustreben sind. Ein Übergang von einer Notfall-Expositionssituation zu einer bestehenden Expositionssituation ist als ein gesellschaftlich-politischer Prozess anzusehen, bei dem der Strahlenschutz nur eine von mehreren Einflussgrößen darstellt. Dieser bezieht sich insbesondere auf eine Verringerung der Unsicherheiten über die radiologische Lage im betroffenen Gebiet und auf die damit verbundenen Strahlenexpositionen und deren Gesundheitsrisiken.



1.3 Übersicht



Bei einer systematischen Darstellung von Entscheidungsgrundlagen und Maßnahmen unterscheidet man zweckmäßigerweise zwischen drei Unfallphasen und mehreren Expositionspfaden. Dies wird in Kapitel 2 dieser Radiologischen Grundlagen behandelt.



Kapitel 3 „Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition“ gliedert sich in zwei Teile: Dosisbegriffe und Strahlenwirkungen. Im ersten Teil werden Dosisbegriffe, die in den folgenden Kapiteln verwendet werden, erläutert. Im zweiten Teil werden diejenigen Strahlenwirkungen besprochen, die für die Festlegung von Referenzwerten und Eingreifrichtwerten relevant sind.



Kapitel 4 ist den Schutzmaßnahmen gewidmet. Es werden die Maßnahmen und das Konzept für ihre Planung vorgestellt. Im Vordergrund stehen dabei schwere Unfälle bei kerntechnischen Anlagen mit weiträumigen und radiologisch schwerwiegenden Konsequenzen. Kernstück des Kapitels sind der übergeordnete Referenzwert der verbleibenden Dosis im ersten Jahr und die dosisbezogenen Eingreifrichtwerte für die einzelnen Maßnahmen. Der Referenzwert und die Eingreifrichtwerte für die einzelnen Schutz- und Gegenmaßnahmen werden begründet und erläutert. Es wird dargestellt, dass bei Erreichen einer Dosis in Höhe der Eingreifrichtwerte aus radiologischer Sicht Handlungsbedarf besteht.



Gegenstand von Kapitel 5 ist die Entscheidungsfindung im Ereignisfall. Es werden die wichtigsten Einflussfaktoren beschrieben, die bei der Entscheidung über die Einleitung von Schutz- und Gegenmaßnahmen von Bedeutung sind. Der Vorgang der Entscheidungsfindung als iterativer Prozess der Bewertung von Einflussfaktoren wird erläutert und abschließend auf verfügbare methodische und mathematische Hilfsmittel hingewiesen.



Kapitel 6 bezieht sich auf die Begründung von Referenzwerten der verbleibenden Dosis und von Eingreifrichtwerten im Hinblick auf Schutzmaßnahmen bei radiologischen Notfallsituationen, die durch andere Ereignisse verursacht werden. Im Vergleich zu schweren Kernkraftwerksunfällen sind erwartete Freisetzungen radioaktiver Stoffe dabei um Größenordnungen geringer und damit stärker betroffene Gebiete wesentlich kleiner. Damit gehen zwar keine grundsätzlichen Unterschiede bei Schutzmaßnahmen einher aber natürlich graduelle.



In Kapitel 7 und 8 wird der Strahlenschutz der Einsatzkräfte und besonderer Berufsgruppen behandelt.



2 Unfallphasen und Expositionspfade



Es ist zweckmäßig, den Ablauf eines kerntechnischen Unfalls in Phasen zu unterteilen und dabei Gesichtspunkte wie den Status der Aktivitätsfreisetzung, Art und Dringlichkeit der Maßnahmen, Art und Verfügbarkeit von Ressourcen sowie Relevanz von Expositionspfaden zu berücksichtigen. Deshalb wird in diesen Radiologischen Grundlagen zwischen der Dringlichkeitsphase und der Nachunfallphase unterschieden, die wiederum in jeweils mehrere Teilphasen gegliedert werden. Ziel dieser Phaseneinteilung ist es, in der vorausgehenden Notfallplanung die jeweils notwendigen Maßnahmen zeitlich einzuordnen und die Bedingungen für ihre Implementierung deutlich zu machen.





Abb. 2.1:  Das Phasenmodell bei einem kerntechnischen Unfall



Die Dringlichkeitsphase besteht aus der Vor-Freisetzungsphase und gegebenenfalls der Freisetzungsphase.



Die Vor-Freisetzungsphase beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem die Möglichkeit einer größeren Freisetzung von Radionukliden aus der Anlage vom Betreiber erkannt wird. Sie endet mit dem Beginn solch einer Freisetzung oder der Beherrschung des Ereignisses. Die Vor-Freisetzungsphase kann Stunden oder Tage dauern. Zu den wichtigsten Aufgaben in der Vor-Freisetzungsphase gehören neben der Aktivierung des Krisenmanagements die Information der Bevölkerung und das Durchführen von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. In dieser Phase sollen – sofern notwendig erscheinend und möglich – vor allem vorsorgliche Maßnahmen durchgeführt werden (z.B. eine „vorsorgliche Evakuierung“). Falls die „Einnahme von Iodtabletten“ erforderlich werden könnte, sollte diese Zeit für ihre Verteilung/Abholung genutzt werden. Für eine Prognose des Quellterms ist der Anlagenzustand als Entscheidungsgrundlage von ganz großer Bedeutung. Trotz der erheblichen Unsicherheiten bei der Bestimmung des Quellterms aus Anlagenkriterien und Unsicherheit der Vorhersage der meteorologischen Bedingungen unterstützen Ausbreitungs- und Dosisberechnungen Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen.



Die Freisetzungsphase als Teil der Dringlichkeitsphase schließt an die Vor-Freisetzungsphase an. Sie kann Stunden, Tage oder sogar wenige Wochen dauern. Sofern eine „vorsorgliche Evakuierung“ nicht durchgeführt wurde oder werden konnte, sind im Ausbreitungsbereich der radioaktiven Wolke Maßnahmen vordringlich, die die Strahlenexposition deutlich mindern können, „Aufenthalt in Gebäuden“ und die „Einnahme von Iodtabletten“. Weitere vorsorgliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, insbesondere die „Evakuierung“ im Nahbereich, sind vorzugsweise in den Gebieten vorzunehmen, die möglicherweise zeitnah von der radioaktiven Wolke erreicht werden. Zur Minderung einer möglichen Strahlenexposition kann eine „Evakuierung“ auch während des Durchzugs der radioaktiven Wolke sinnvoll sein. Dazu findet sich bei der Behandlung dieser Maßnahme noch eine Erläuterung. Die Freisetzungsphase endet, wenn die Ausbreitungs- und Ablagerungsvorgänge beendet sind und die Anlage soweit unter Kontrolle ist, dass keine weiteren größeren Freisetzungen zu erwarten sind. Sie ist charakterisiert durch den Übergang von der zunächst reinen Prognose der radiologischen Lage hin zur Feststellung der tatsächlichen Umgebungskontamination unter Einbeziehung der Auswertung von vermehrt vorliegenden Messwerten von stationären oder mobilen Messeinrichtungen. Unvorhersehbare oder unerwartete zeitliche Änderungen im Freisetzungsverlauf oder den atmosphärischen Ausbreitungsbedingungen können Änderungen oder Ergänzungen von bereits initiierten Schutzmaßnahmen erforderlich machen. Die direkt mit dem Durchzug der radioaktiven Wolke verbundenen Expositionspfade und der Strahlenschutz der Einsatzkräfte, die überwiegend keine beruflich strahlenexponierten Personen sind, erfordern in dieser Phase besondere Aufmerksamkeit.



Die Nachunfallphase besteht aus der Übergangsphase und der langfristigen Nachunfallphase.



Die Übergangsphase erstreckt sich über den Zeitraum, in dem einerseits die Wolkenstrahlung einschließlich der unmittelbaren Inhalation radioaktiver Stoffe und die Deposition beendet oder zumindest nicht mehr von Bedeutung sind. Sie kann sich über Tage bis einige Wochen oder sogar Monate hinziehen. Die Übergangsphase ist dadurch charakterisiert, dass durch Messungen in ausreichender Zahl und Qualität Kontaminationswerte von Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Oberflächen, Böden, Pflanzen und Gewässern erhalten werden, um ein genaues Bild der radiologischen Lage zu gewinnen. An ihrem Ende sollten die nötigen Daten, Hilfsmittel und auch die Zeit zur Verfügung stehen, um über die ereignisbezogene Rechtfertigung und Optimierung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung in der langfristigen Nachunfallphase sowie zur Rechtfertigung und Optimierung der Strahlenexposition der Einsatzkräfte und besonderer Gruppen der Bevölkerung entscheiden zu können. Bei der Entscheidung über Änderungen von Maßnahmen, die in den vorhergehenden Phasen beschlossen wurden, oder zusätzliche Maßnahmen, z.B. „Umsiedlung“, ist zu bedenken, dass zu diesem späten Zeitpunkt nur noch ein Teil der ohne Maßnahmen auflaufenden Gesamtdosis vermieden werden kann (vermeidbare Dosis). Schließlich muss über die (schrittweise) Aufhebung der Maßnahmen entschieden werden.



Die langfristige Nachunfallphase kann je nach der Höhe der Kontamination für einige Gebiete bis zu mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte nach dem Unfall dauern. Sie ist gekennzeichnet durch eine langfristige Kontamination der Gebiete und dem Risiko einer chronischen Strahlenexposition von Menschen auf einem zwar niedrigen, aber dauerhaften Niveau. In dieser Phase, die als bestehende Expositionssituation im Sinne von ICRP 103 und ICRP 111 eingestuft werden kann, stehen die Fragen an, wie in den betroffenen Gebieten das individuelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben gestaltet werden kann. Hierzu müssen der betroffenen Bevölkerung und den wirtschaftlich Tätigen Kenntnisse zur praktischen Umsetzung des Strahlenschutzes (Strahlenschutzkultur) vermittelt werden. Die weiterhin notwendige Optimierung möglicher Maßnahmen muss in einem gesellschaftlichen Konsens durchgeführt werden, der alle relevanten – auch nicht radiologisch bedeutsamen – Aspekte mit einschließt. Für Personen, die sich in stärker kontaminierten Gebieten aufgehalten haben oder noch aufhalten, ist eine systematische Erfassung der durch externe und interne Exposition erhaltenen effektiven Dosis und gegebenenfalls Schilddrüsendosis zu planen. Die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken sollten verständlich vermittelt werden. Außerdem sollte für Mitglieder der allgemeinen Bevölkerung in stärker kontaminierten Gebieten eine medizinische Nachverfolgung ihrer gesundheitlichen Entwicklung organisiert werden.



In der Nachunfallphase können die Übergangsphase und die langfristige Nachunfallphase räumlich und zeitlich getrennt auftreten.



Sowohl in der Übergangsphase als auch in der langfristigen Nachunfallphase kann ein behördlich veranlasster Übergang zu einer bestehenden Expositionssituation erfolgen.



Bei einem kerntechnischen Unfall in die Umwelt austretende radioaktive Stoffe können auf unterschiedlichen Pfaden zu einer Strahlenexposition des Menschen führen. Die wesentlichen Expositionspfade sind:



Äußere Strahlenexposition durch



Strahlung aus der durchziehenden radioaktiven Wolke,


Strahlung aufgrund der Bodenkontamination,


Strahlung aufgrund der Kontamination von Haut, Kleidung,


Strahlung aufgrund der Kontamination von Gegenständen und festen oder flüssigen Abfällen sowie


Direktstrahlung aus der Anlage.


Innere Strahlenexposition durch



Inhalation luftgetragener radioaktiver Stoffe aus der radioaktiven Wolke,


Ingestion kontaminierter Lebensmittel (Die Kontamination von Lebensmitteln kann auf ganz unterschiedliche Art zustande kommen, z.B. durch direkte Kontamination von Blattgemüse, durch Wurzelaufnahme von Pflanzen in kontaminierten Böden, durch Radioaktivitätsaufnahme kontaminierter Futterpflanzen, durch Nutz- und Wildtiere und nachfolgender Kontamination von Milch oder Fleisch. Diese Mechanismen werden z.B. im Maßnahmenkatalog (SSK 2007) beschrieben.),


Inhalation aufgewirbelter (resuspendierter) Radionuklide, die zuvor schon auf dem Boden, auf Gegenständen und der Kleidung abgelagert waren,


Unabsichtliche Ingestion kontaminierter Bodenbestandteile (wie etwa bei auf dem Boden spielenden Kindern) oder durch orale Aufnahme der Kontamination der Haut oder der Kleidung sowie


Ingestion kontaminierten Trinkwassers.


Bei der Beurteilung der Bedeutung der Expositionspfade spielt der Betrachtungszeitraum eine ausschlaggebende Rolle. Wenn keine Maßnahmen getroffen werden, kann die Ingestion kontaminierter Lebensmittel in der längerfristigen Betrachtung der wichtigste Expositionspfad sein. Ansonsten sind bei Kernkraftwerksunfällen die Inhalation luftgetragener radioaktiver Stoffe nach Freisetzung in die Atmosphäre und die Strahlung aus Bodenkontamination die dominierenden Expositionspfade. Bei nasser Ablagerung kann die Strahlung durch Bodenkontamination stark an Bedeutung gewinnen.



Bei anderen radiologischen Ereignissen sind prinzipiell die gleichen Expositionspfade möglich. Allerdings können sich die Beiträge der Expositionspfade untereinander erheblich verschieben.



In bestimmten Fällen (z.B. bei der Freisetzung von Uranhexafluorid) überwiegt die chemische Toxizität durch Flusssäure gegenüber der Radiotoxizität.





Abb. 2.2:

Schematische Darstellung von ausgewählten Expositionspfaden, die zu äußerer oder innerer Strahlenexposition des Menschen führen können (aus ISM-RLP 1986)



3 Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition



Im medizinischen Strahlenschutz werden Strahlenschäden wegen grundsätzlich unterschiedlicher Entstehungsweisen in zwei Gruppen eingeteilt. Hierbei spielt vor allem das eindeutige Vorliegen bzw. der fehlende Nachweis einer Schwellendosis eine wesentliche Rolle. Man unterscheidet demzufolge sogenannte deterministische Strahleneffekte, für die eine jeweilige Schwellendosis besteht und bei deren Unterschreitung kein sichtbarer biologischer Effekt zu erwarten ist, von sogenannten stochastischen Strahleneffekten, für die im Strahlenschutz kein Schwellenwert angenommen wird.



Um den Umgang mit den im Folgenden verwendeten Dosisgrößen zu erleichtern, wird der Beschreibung der unterschiedlichen Strahlenwirkungen eine Zusammenfassung der Dosisgrößen und -einheiten vorangestellt.



3.1 Dosisbegriffe



Jede biologische Strahlenwirkung entsteht durch Energiedeposition in der Zelle. Die Größe dieser Energiedeposition wird durch die Energiedosis angegeben, d. h. durch die Energie, die in ein Volumenelement eingetragen wird, dividiert durch die Masse dieses Volumens. Die Einheit der Energie ist das Joule, die Einheit der Masse das Kilogramm. Im Strahlenschutz interessieren in der Regel die über biologische Gewebe oder ein Organ gemittelten Energiedosen. Die Einheit der Energiedosis ist das Gray (Gy, 1 Gy = 1 J/kg).



Die biologische Wirkung ist nicht nur von der Energie, sondern auch von der Strahlenart abhängig. Alphateilchen und Neutronen haben eine andere biologische Wirksamkeit als Röntgen-, Beta- oder Gammastrahlung. Um ein für alle Strahlenarten gültiges Maß für die stochastischen Strahleneffekte zu erhalten, wird die Energiedosis mit einem dimensionslosen Wichtungsfaktor multipliziert, der für jede Strahlenart definiert ist und die biologische Wirksamkeit relativ zu der von Photonen charakterisiert. Die mit dem Strahlungswichtungsfaktor multiplizierte mittlere Energiedosis in einem Gewebe oder Organ heißt Organdosis (zukünftig wahrscheinlich Organ-Äquivalentdosis). Der häufig anzutreffende Begriff Äquivalentdosis (zukünftig wahrscheinlich Mess-Äquivalentdosis) bezieht sich auf ein etwas anderes Konzept, bei dem die Energiedosis mit einem dimensionslosen Qualitätsfaktor multipliziert wird, der aus dem linearen Energietransfer (LET) ermittelt wird. Organdosis und Äquivalentdosis sind numerisch in der Regel sehr ähnlich. Sie werden in Sievert (Sv, 1 Sv = 1 J/kg) angegeben. In der Praxis wird oft auch die Einheit Millisievert (mSv) verwendet (1 Sv = 1 000 mSv). Die Organdosis bzw. Äquivalentdosis sollte nicht im Zusammenhang mit deterministischen Effekten verwendet werden, da die Umrechnungsfaktoren, mit der die Energiedosis multipliziert wird, deutlich niedriger sind als diejenigen für stochastische Effekte. Die biologische Wirkung der ionisierenden Strahlung ist ferner in den verschiedenen Geweben und Organen des Körpers unterschiedlich. Diese Unterschiede sind besonders im Hinblick auf die stochastischen Effekte zu bewerten, da die Wahrscheinlichkeit der strahleninduzierten Krebsentstehung in den verschiedenen Geweben und Organen des Körpers unterschiedlich hoch ist. Um diese unterschiedliche Empfindlichkeit in der Dosis zum Ausdruck zu bringen, wurden dimensionslose Gewebewichtungsfaktoren eingeführt, die gemäß ICRP 103 definiert sind (ICRP 2007). Die Summe der so gewichteten Organdosen wird effektive Dosis genannt. Auch sie wird in Sievert (Sv) bzw. Millisievert (mSv) angegeben.



Im Notfallschutz wird generell die effektive Dosis verwendet, weil die Einleitung von Maßnahmen bei Dosen vorgesehen ist, bei denen noch keine deterministischen Effekte, sondern nur stochastische Effekte auftreten können. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass es, z.B. in der nahen Umgebung einer betroffenen kerntechnischen Anlage, zu höheren Dosen kommen kann. Für diese ist das Modell der effektiven Dosis, das sich auf stochastische Effekte bezieht, nicht mehr anwendbar.



Von Bedeutung für die biologische Wirkung insbesondere im Zusammenhang mit deterministischen Effekten ist auch die Zeitspanne, innerhalb der ionisierende Strahlung auf ein biologisches Gewebe einwirkt, d. h. zum Beispiel, ob dort eine Dosis von 1 Gy innerhalb einer Stunde oder innerhalb eines Jahres erreicht wird. Der Quotient aus der Dosis und dem zugehörigen Zeitintervall wird als Dosisleistung bezeichnet. Sie wird häufig in Gy/h bzw. Sv/h angegeben. Im Notfallschutz wird das Zeitintervall, auf das sich ein Dosiswert bezieht, als Integrationszeit der Dosis bezeichnet.



Ionisierende Strahlung kann den Körper auf verschiedene Weise treffen. Gamma- und Röntgenstrahlung sowie Neutronen werden durch die Haut kaum abgeschwächt. Sie werden in unterschiedlichem Umfang durch die Körpergewebe absorbiert. Eine derartige äußere Bestrahlung führt, wenn sie den ganzen Körper trifft, zu einer Ganzkörperexposition, wenn nur Teile des Körpers betroffen sind zu einer Teilkörperexposition.



Wenn sich Radionuklide auf der unbedeckten Haut ablagern, spricht man von Hautkontamination. Insbesondere in diesem Fall führen Betastrahler (z.B. Strontium-90, Iod-131) mit einer relativ geringen Eindringtiefe zu einer Energieabsorption in der Haut, erzeugen also im Wesentlichen eine Hautdosis.



Alphateilchen haben eine so geringe Eindringtiefe, dass es bei Kontamination in der Regel zu keiner relevanten Dosis in der strahlenempfindlichen Erneuerungsschicht der Haut kommt, da diese von der Strahlung nicht erreicht wird. Nur im Fall sehr hochenergetischer Alpha-Strahler kann auch diese Hautschicht erreicht werden.



Es bestehen verschiedene Möglichkeiten der direkten Aufnahme radioaktiver Stoffe in den Körper: Die sich daraus ergebende Dosis bezeichnet man als Inkorporationsdosis. Man unterscheidet zwischen Inhalation und Ingestion:



Luftgetragene radioaktive Stoffe können über Mund und Nase eingeatmet werden und führen zu einer Inhalationsdosis.


Mit kontaminierter Nahrung können Radionuklide (z.B. Iod-131, Caesium-137) aufgenommen werden und führen zu einer Ingestionsdosis.


Sind radioaktive Stoffe in den Körper gelangt, so werden sie teilweise wieder ausgeschieden (Atmung, Stuhl, Urin) und je nach chemischer Verbindung in Organen für unterschiedliche Dauer eingelagert. Das Verbleiben im Körper wird durch die sogenannte „biologische Halbwertszeit“ charakterisiert, d. h. die Zeit, nach der die Hälfte der Radionuklide aus dem Körper ausgeschieden ist. Sie kann sich stark von der „physikalischen Halbwertszeit“ eines Radionuklides infolge des radioaktiven Zerfalls unterscheiden. Die Zusammenfassung beider Halbwertszeiten führt zur effektiven Halbwertszeit. Solange sich die Radionuklide im Körper befinden, erzeugen sie eine Dosis, die als Folgedosis bezeichnet wird. Je nachdem ob es sich um eine effektive Dosis oder eine Organdosis handelt, spricht man von effektiver Folgedosis oder Organ-Folgedosis. Beide Arten von Folgedosis werden für einen Integrationszeitraum von 50 Jahren bei Erwachsenen und von 70 Jahren bei Kindern ermittelt.



3.2 Strahlenwirkungen: Stochastische Effekte



Jede biologische Wirkung ionisierender Strahlung entsteht durch statistisch verteilte Energiedepositionen in den Zellen des menschlichen Körpers. Sie führt zu Ionisationen in verschiedenen Molekülen der Zelle, die dadurch verändert werden können. Besonders folgenreich sind dabei Veränderungen an der Erbinformation, der DNA. Diese Veränderungen können



den Tod oder die funktionelle Inaktivierung der Zelle (sofort oder nach einem längeren Zeitraum) oder


eine molekulare Veränderung der Zelle (vor allem eine bleibende Veränderung der DNA)


zur Folge haben.



Jede Zelle verfügt über ein großes Potential zur Reparatur von Veränderungen insbesondere an der DNA. Daher werden die meisten molekularen Veränderungen folgenlos bleiben. Es ist aber möglich, dass eine Reparatur unterbleibt oder fehlerhaft verläuft und dadurch eine mutierte Zelle entsteht, die sich teilt und ihre veränderte genetische Information weitergibt. Aus einer veränderten Zelle kann sich über eine noch nicht vollständig aufgeklärte Ereigniskette eine Gruppe (ein Klon) von Zellen ohne Wachstumskontrolle bilden, die sich zu einem Krebs oder einer Leukämie entwickeln können. Diese Wirkung wird auch als somatische Wirkung bezeichnet.



Wenn die molekulare Veränderung in einer Keimzelle erfolgt, kann der Defekt auf die Nachkommen vererbt werden. Man spricht dann von der genetischen Wirkung der Strahlung.



Für diese Wirkung durch molekulare Veränderungen wird im Strahlenschutz angenommen, dass keine Dosisschwelle besteht. Allerdings ist die Eintrittswahrscheinlichkeit im niedrigen Dosisbereich (bis zu einigen zehn Millisievert) so gering, dass ein Nachweis von gesundheitlichen Schäden mit den derzeit zur Verfügung stehenden Methoden nicht möglich ist. Eventuelle Folgen werden erst nach einer Latenzzeit von Jahren bis Jahrzehnten erkennbar. Eine Erhöhung der Strahlendosis erhöht die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Erkrankung. Die Kurvendarstellung beginnt daher am Nullpunkt mit einem linearen Anstieg im untersten und mittleren Dosisbereich.



In dieser Form wird die biologische Strahlenwirkung als stochastischer Effekt bezeichnet.



Ihre quantitative Erfassung ist nicht einfach, da sich bei heutigem Kenntnisstand nicht erkennen lässt, ob sich ein Krebs oder eine Leukämie aufgrund ionisierender Strahlung oder aus einem anderen Grund entwickelt hat. Daher wird mit Hilfe epidemiologischer Untersuchungen von größeren Populationen, die strahlenexponiert wurden (im Wesentlichen überlebende Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki), die Zahl von Erkrankungsfällen (Inzidenz) an Krebs und Leukämie ermittelt und mit der Zahl auch ohne Strahlung auftretender Erkrankungsfälle verglichen. Der Quotient aus beiden Zahlen kann in Beziehung gesetzt werden zu der Dosis einer vorausgegangenen Strahlenexposition. Aus beiden Daten lässt sich das Strahlenrisiko als Eintrittswahrscheinlichkeit bei einer Dosis mathematisch-statistisch ausdrücken. Veränderungen in der Datenlage können eine Änderung des berechneten Risikos bewirken. Zu berücksichtigen ist z.B., dass mit dem Alterungsprozess der untersuchten Population die Zahl der Erkrankungsfälle zunimmt. Auch neue Erkenntnisse bei der Abschätzung der Strahlendosis haben Einfluss auf das berechnete Strahlenrisiko.



Der Notfallschutz hat bezüglich der stochastischen Effekte das Ziel, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens zusätzlicher Krebs- und Leukämiefälle durch eine Strahlenexposition der Bevölkerung mit Hilfe geeigneter Maßnahmen so gering wie möglich zu halten. Dabei muss allerdings vermieden werden, dass es auf Grund der Durchführung der Maßnahmen zu unakzeptablen Nachteilen für bestimmte Bevölkerungsgruppen kommt. Es sollte z.B. im Rahmen der Planung von Evakuierungsmaßnahmen überlegt werden, ob die Evakuierung kranker älterer Personen nicht mit einem höheren Risiko verbunden ist, als dies durch die Strahlung hervorgerufen werden kann.



3.3 Strahlenwirkungen: Deterministische Effekte



Deterministische Effekte setzen eine höhere Energiedeposition voraus. Es gibt dafür Schwellendosen, die für die einzelnen Gewebe, Organe und Individuen unterschiedlich sind. Oberhalb des Bereichs der Schwellendosis ist das Ausmaß des Schadens dosisabhängig, die Eintrittswahrscheinlichkeit beträgt dagegen 100 %.



Der Grund für das Vorliegen von Schwellendosen, oberhalb derer klinisch manifeste Schäden auftreten können, liegt darin, dass sehr viele Zellen getötet bzw. funktionell inaktiviert werden müssen. Mit Strahlendosen unterhalb der jeweiligen Schwellendosen können zwar einzelne Zellen abgetötet bzw. inaktiviert werden, aber nicht ausreichend viele, um einen Effekt auf der Ebene des Gewebes, des Organs oder des gesamten Organismus zu beobachten.



In einem Bereich der Energiedosis bis zu etwa 100 mGy zeigt kein menschliches Gewebe oder Organ eine klinisch relevante Einschränkung seiner Funktion (ICRP 2007). Dies gilt weitgehend auch für den sich entwickelnden, menschlichen Embryo (Ausnahme: Abtötung im Einzellstadium durch Einwirkung von dicht-ionisierender Strahlung).



Übersteigt die Energiedosis den Wert von 100 mGy, so zeigen folgende Organe erste Funktionseinschränkungen:



Die männlichen Keimdrüsen (Hoden): Eine einmalige Strahlendosis ab etwa 0,15 Gy führt zu zeitweiliger Sterilität. Dauernde Sterilität tritt jedoch erst nach Strahlenexpositionen von über 3 Gy ein. Sie könnte z.B. im Zusammenhang mit einem akuten Strahlensyndrom nach Ganzkörper-Bestrahlung beobachtet werden. Eine Besonderheit gilt es hier zu beachten: Fraktionierte Expositionen sind etwas wirksamer als einmalige Expositionen mit derselben Gesamtdosis. (Dörr und Herrmann 2005)


Die weiblichen Keimdrüsen (Eierstock): Ab einer Dosis von etwa 0,5 Gy ist mit temporären Störungen zu rechnen, ab 1 Gy bis 2 Gy kann es bei mehr als der Hälfte der Frauen zu einem dauerhaften Ausbleiben des Eisprungs kommen und ab 5 Gy wird komplette Sterilität bei allen Frauen beobachtet. Frauen über 40 Jahre zeigen ausgeprägtere Effekte als Frauen unter 40 Jahren. (Dörr und Herrmann 2005)


Das Knochenmark reagiert mit einer nachweisbaren Störung der Blutzell-Bildung bereits nach einer akuten Bestrahlung im Dosisbereich von 0,5 Gy. Die Störung kann sich vollständig zurückbilden und führt noch nicht zum hämatopoetischen Syndrom, das nach kurzzeitiger Ganzkörperexposition oberhalb von 1 Gy zu erwarten ist.


Die Augenlinse zeigt bei einer einmaligen Strahlendosis von mehr als etwa 0,5 Gy statistisch signifikant erhöht nach einer Latenzzeit von mehreren Jahren bis Jahrzehnten eine Trübung, die das Sehvermögen beeinträchtigt. Bei der Linsentrübung (Katarakt) könnte es sich um einen stochastischen Effekt handeln (Ainsbury et al. 2009). Um den neuen Erkenntnissen Rechnung zu tragen, hat die ICRP (Kleinman 2012) für die berufliche Strahlenexposition einen Jahresgrenzwert von 20 mSv empfohlen. Um ein geschlechts- und altersabhängiges Risiko angeben zu können, müssen weitere Forschungsergebnisse abgewartet werden.


Für den sich entwickelnden menschlichen Embryo kann auf der Basis tierexperimenteller Untersuchungen und der wenigen für den Menschen vorliegenden Daten (Hiroshima und Nagasaki, Strahlentherapie) angenommen werden, dass für die Induktion einer Fehlbildung eine Schwellendosis im Bereich von 100 mGy existiert (ICRP 2003, ICRP 2007).


Bei den übrigen Geweben und Organen liegen die Schwellendosen oberhalb von 1 Gy (ICRP 2005).


Zu beachten ist, dass es sich bei den aufgeführten Schwellendosen der deterministischen Effekte in der Regel um Werte handelt, die bei 99 % der exponierten Personen keine Effekte hervorrufen (ICRP 2007). Man muss insbesondere auf Grund der individuellen Strahlenempfindlichkeit in Einzelfällen mit Abweichungen nach oben oder unten rechnen.



Wesentliches Ziel des Notfallschutzes ist es, schwerwiegende deterministische Effekte durch Maßnahmen zur Beschränkung der individuellen Strahlendosis auf Werte unter den Schwellendosen für diese Effekte zu vermeiden. Unter schwerwiegenden deterministischen Effekten versteht die ICRP irreversible Erkrankungen, die direkt der Strahlenexposition zuzuordnen sind und schwere Beeinträchtigungen der Lebensqualität nach sich ziehen, wie z.B. eine Lungenerkrankung oder frühzeitiger Tod.



Schwerwiegende deterministische Effekte sind oftmals im Zusammenhang mit einem akuten Strahlensyndrom festzustellen. In Abhängigkeit von der Dosis und dem exponierten Körperbereich (Ganz- oder Teilkörper) lassen sich typische klinische Syndrome unterscheiden. Im Folgenden werden beispielhaft deterministische Effekte in der Form klinischer Krankheitsbilder beschrieben. Für weitere Erläuterungen sei auf Band 32 der SSK verwiesen (SSK 2006).



Das akute Strahlensyndrom



Es tritt nach kurzzeitiger Ganzkörper- oder großvolumiger Teilkörperbestrahlung in Dosisbereichen oberhalb von 1 Gy auf. Es zeigt vier klinische Erscheinungsformen, die unterschiedlichen Dosisbereichen zugeordnet werden können (Fliedner 1992, Fliedner et al. 2001, SSK 2006b). Initial wird ein Abfall der peripheren Lymphozytenzahl beobachtet, welcher auf einem raschen apoptotischen Absterben dieser Zellen beruht. Das Ausmaß der Verminderung der Lymphozytenzahl ist ein wertvoller Indikator, um den Dosisbereich der Exposition abschätzen zu können.



Die haematopoetische Form wird vor allem hervorgerufen durch eine Schädigung des blutbildenden Knochenmarks in einem Dosisbereich von ca. 1 Gy bis 10 Gy. Sie beginnt mit einer eher uncharakteristischen Frühsymptomatik: Übelkeit, Erbrechen und allgemeine Körperschwäche. Im Blutbild finden sich charakteristische Veränderungen, die in der Folge einen dosisabhängigen Verlauf zeigen. Das Ausmaß der Störung der Blutbildung und die eingesetzte Therapie entscheiden darüber, ob das bestrahlte Unfallopfer überlebt.



Die gastrointestinale Form ist durch eine zusätzliche Schädigung der Darmschleimhaut gekennzeichnet, die ab einer Exposition von ca. 5 Gy bis 10 Gy auftritt. Die Frühsymptomatik ist auch hier uncharakteristisch (Übelkeit, Erbrechen, Körperschwäche, stets Früherythem), aber sie beginnt früher und ist ausgeprägter. Außer der Blutbildung wird nun auch die Dünndarmschleimhaut schwer geschädigt. Darminfektionen und andauernde Durchfälle sind die Folge. Bis zu einer Dosis von ca. 20 Gy gibt es auch bei diesem Krankheitsbild bei intensiver Therapie in Einzelfällen eine Chance zu überleben.



Die (muko)kutane Form beinhaltet alle pathologischen Reaktionen der Haut und der kutanen Schleimhäute auf Exposition mit ionisierender Strahlung. Innerhalb der ersten sieben Tage nach Exposition treten frühe Hautläsionen (Erythem, Ödem, Blasen, Desquamation) nur nach sehr hohen Dosen (lokal > 100 Gy) auf, können sich aber mit zeitlicher Verzögerung auch nach erheblich niedrigeren Dosen entwickeln. Es lassen sich verschiedene Reaktionsphasen abgrenzen: Die Gefäßreaktion mit erythematösen und ödematösen Veränderungen (Früh- und Haupterythem). Eine Phase der trockenen Schuppung wird gefolgt von der feuchten Desquamation, die letztendlich in Ulzerationen bis hin zu tiefen Nekrosen mündet. Höhere Dosen führen zu kürzeren Latenzzeiten. Blasenbildung kann als Hinweis auf akute Nekrosen bei sehr hohen Dosen gelten.



An der Haut sind auch Strahleneffekte an den Adnexen (Hautanhangsgebilden) zu beachten: Austrocknung der Haut, Verlust der Transpiration, Haarverlust (Dosis > 3 Gy, irreversibel ca. > 10 Gy).



Bei der zerebrovaskulären Form kommt es zusätzlich zu einer Schädigung des Zentralnervensystems nach einer Dosis von mehr als 20 Gy. Diese schwerste Form des akuten Strahlensyndroms zeigt eine sofort einsetzende Frühsymptomatik ohne Latenzzeit. Die Symptomatik umfasst Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Bei zunehmender Strahlendosis tritt Fatigue (Ermüdung) hinzu; ihre Zunahme ist Hinweis auf die Verschlimmerung des zerebrovaskulären Syndroms. Auch Diarrhoe in dieser Phase ist Ausdruck einer zentralen Schädigung. Die Gefäßstörungen bedingen Kopfschmerzen, Hypotension und Verwirrtheit. Sensomotorische Störungen manifestieren sich in Ataxie und Bewusstseinsverlust. Das akute Auftreten von Übelkeit ist in allen Phasen des zerebrovaskulären Syndroms zu beobachten, wobei die Schwere mit zunehmender Dosis abnimmt. Nach hohen Dosen (> 10 Gy) ist der Brechreflex unterdrückt und wird überlagert durch eine allgemeine Unterdrückung zentralnervöser Funktionen. Die Herz-Kreislauf-Störungen resultieren in Myokardschädigung und Schock, die letztendlich innerhalb von wenigen Stunden bis Tagen zum Tod führen.



Die hier aufgeführten klinischen Symptome stehen im Vordergrund des Krankheitsgeschehens. Daneben sind auch immer andere Organe betroffen, wie die Speicheldrüsen, die Schilddrüse und insbesondere die Lunge, deren strahleninduzierte Entzündung (Strahlenpneumonitis) eine erhebliche Komplikation darstellt.



Weiterhin kann es zu strahleninduzierten Multiorganinteraktionen und strahleninduziertem Multiorganversagen (Fliedner et al. 2001) kommen. Dosisabhängig ist stets sowohl mit einer Wechselwirkung bestrahlter Organe untereinander, aber auch zwischen bestrahlten und nicht bestrahlten Organen und Organsystemen zu rechnen. Diese Interaktionen beeinflussen die Strahlenreaktion des gesamten Organismus maßgeblich und können bei hohen Strahlendosen (oberhalb von ca. 4,5 Gy Ganzkörperbestrahlung) zum strahleninduzierten Multiorganversagen führen.



3.4 Wirkungen einer Bestrahlung während der vorgeburtlichen Entwicklung



Diese Strahlenwirkung muss zusätzlich betrachtet werden, weil das Leben in dieser Entwicklungsphase besonders empfindlich auf ionisierende Strahlung reagiert. Deterministische und stochastische Effekte werden dabei gemeinsam besprochen. Folgende Wirkungen sind allerdings zum Teil nur im Tierversuch beobachtet worden:



Tod des Ungeborenen oder des Neugeborenen,


körperliche Fehlbildungen,


Wachstumsstörungen. (Diese können insbesondere die Hirnentwicklung betreffen und zu Funktionsstörungen (z.B. Hirnleistungsstörungen) führen.),


Fertilitätsstörungen (Sterilität),


maligne Erkrankungen (Krebs oder Leukämie) und


vererbbare Defekte (nur im Tierversuch beobachtet).


Diese Wirkungen sind abhängig von der vorgeburtlichen Entwicklungsphase, in der die Exposition erfolgt:



In der Präimplantationsperiode, also dem Zeitraum, in dem die Eizelle zwar befruchtet, aber noch nicht in der Gebärmutterschleimhaut eingepflanzt ist, wird überwiegend Embryonaltod als Folge eines nicht reparierten Strahlenschadens beobachtet. Der Zeitraum reicht von der Konzeption bis etwa zum zehnten Tag. Das Bestehen einer Schwangerschaft ist der Frau jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt.


In der Periode der Organbildung, die etwa vom zehnten Tag bis zur siebten Woche nach der Konzeption dauert, sind sowohl der Tod des Fetus als auch eine ausgeprägte Fehlbildung möglich. Auch in diesem Zeitraum wissen viele Frauen noch nichts von ihrer Schwangerschaft.


In der anschließenden fetalen Periode, die bis zur Geburt reicht (etwa 39. Woche), können Wachstumsstörungen auftreten, die besonders in den Wochen 8 bis 15 und mit etwas geringerem Risiko in den Wochen 16 bis 25 die Hirnentwicklung betreffen und nach der Geburt zur geistigen Retardierung führen können.


Für fast alle diese Wirkungen bestehen Schwellenwerte, bei deren Unterschreitung die Wirkung nicht mehr erkennbar ist. Die Schwellenwerte sind allerdings unterschiedlich je nach Strahlenwirkung und vorgeburtlichem Stadium, in dem die Exposition erfolgt.



In ICRP 90 (ICRP 2003) und ICRP 103 (ICRP 2007) wird für den Fetus als niedrigster Schwellenwert 100 mGy für deterministische Effekte angegeben. Bei diesem Wert handelt es sich vor allem um eine Abschätzung aus Tierversuchen bei kurzzeitiger Ganzkörper-Exposition. Für schwere geistige Retardierung wird von Schwellendosen im Bereich von 300 mGy (Energiedosis für das Gehirn) für die Schwangerschaftswochen 8 bis 25 ausgegangen (ICRP 2007).



Die Entstehung maligner Erkrankungen (Krebs oder Leukämie) nach der Geburt bei Bestrahlung des Feten im Uterus kann auf Grund epidemiologischer Untersuchungen als gesichert angenommen werden. Es wird heute davon ausgegangen, dass während der vorgeburtlichen Entwicklung eine höhere Strahlenempfindlichkeit vorliegt als beim Erwachsenen. Für stochastische Effekte gilt hier, dass die für eine Fetusdosis von 10 mSv berichtete Erhöhung der spontanen Leukämie- und Krebsrate im Kleinkindalter (0 bis 4 Jahre) bei etwa 40 % (SSK 2008b) liegt. Im späteren Kindesalter und im Jugendalter ist das zusätzliche Risiko nach In-utero-Exposition etwas geringer (Muirhead und Kneale 1989). Das zusätzliche Krebsrisiko nach In-utero-Exposition liegt um den Faktor 2 bis 3 höher als nach Expositionen im Erwachsenenalter (Preston et al. 2008).



4 Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung



4.1 Maßnahmen und ihre Wirksamkeit



Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung werden durch Entscheidungen der Einsatzleitungen des Katastrophenschutzes bzw. der Strahlenschutzvorsorge aufgrund der Kenntnis über das radiologische Ereignis und den Anlagenzustand und nach Bewertung der radiologischen Lage und der aktuellen Situation in den betroffenen Gebieten ausgelöst. Eine Übersicht über die wichtigsten frühen Maßnahmen, die geeignet sind, die Strahlenexposition zu vermeiden oder zumindest herabzusetzen, ist zusammen mit den dadurch beeinflussbaren Expositionspfaden in Tabelle 4.1 angegeben.



Bei der Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ wird die Bevölkerung aufgefordert, sich in schützende Räume zu begeben und sich dort über den empfohlenen Zeitraum aufzuhalten. Schützende Räume sollten so gewählt werden, dass die Inkorporation von Radionukliden mit der Atemluft und die äußere Strahlung durch Abschirmung so weit wie möglich reduziert werden. Die erreichbare Abschirmwirkung gegen äußere Strahlung hängt stark vom Gebäudetyp, den Baumaterialien und der Umgebungsbebauung ab, Variationsbreiten von mehreren Zehnerpotenzen sind möglich (siehe Tabelle 4.2).



Bei Veranlassung der Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ wird empfohlen, Fenster und Türen zu schließen und Lüftungsanlagen abzustellen. Dadurch soll die Luftaustauschrate mit der Außenluft verringert und die sich einstellende Aktivitätskonzentration in der Raumluft während des Vorbeizugs einer Schadstoffwolke auf erniedrigtem Niveau gehalten werden. Die verbleibende Luftaustauschrate bewirkt eine zeitlich verzögerte Zunahme der Innenraumkonzentration und eine gewisse Mittelung über zeitlich variable Aktivitätskonzentrationen in der Außenluft. Abscheideprozesse auf inneren Oberflächen wie Bodenflächen führen zu einer Abnahme der Luftkonzentration in Innenräumen.



Für Planungszwecke kann angenommen werden, dass durch die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ sowohl für eine Exposition durch externe Strahlung als auch durch Inhalation radioaktiver Stoffe ein Schutzfaktor von 3 erreicht wird (Brenk 1987, Thatcher et al. 2003).



Tab. 4.1:  Maßnahmen und damit beeinflussbare Expositionspfade



Maßnahmen



Expositionspfade,
 zu deren Beeinflussung die Maßnahmen geeignet sind 

Frühe Maßnahmen



Aufenthalt in Gebäuden


Äußere Exposition und Inhalation

Evakuierung


Äußere Exposition und Inhalation

Einnahme von Iodtabletten


Inhalation von Radioiod

Vorsorgliche Empfehlung, frisch geerntete Nahrungs- und Futtermittel nicht zu verwenden


Ingestion von kontaminierten Nahrungsmitteln

Werden die Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden und vorsorgliche Evakuierung empfohlen, sind zusätzlich noch folgende Maßnahmen zu ergreifen:




Zugangsbeschränkungen


Äußere Exposition und Inhalation


Personendekontamination


Äußere Exposition durch auf der Haut, in den Haaren und auf Kleidung abgelagerte Radionuklide

Strahlungsmessungen zur Erfassung der radiologischen Lage und im Rahmen medizinischer Screeningmaßnahmen



Äußere und innere Exposition

Spätere Maßnahmen


Eingriffe in die Versorgung mit Lebens- und Futtermitteln 


Ingestion von kontaminierten Lebensmitteln1

Temporäre Umsiedlung, Langfristige Umsiedlung


Äußere Exposition durch abgelagerte Radionuklide, Inhalation durch Resuspension

Dekontamination der bewohnten Umwelt (Straßen, Immobilien, Gelände, Gegenstände)


Äußere Exposition durch abgelagerte Radionuklide und Inkorporation

Maßnahmen zur Reduzierung von Radionuklidgehalten in Lebens- und Futtermitteln


Ingestion von kontaminierten Lebensmitteln1



Die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ dient nicht nur dem Schutz vor Strahlenexposition, sondern erleichtert auch die Information der Bevölkerung durch die Behörden über Radio, Fernsehen oder Internet.



Der Begriff „Evakuierung“ kennzeichnet die rasche organisierte oder zumindest durch Hilfskräfte unterstützte Verlegung der Bevölkerung aus einem gefährdeten Gebiet mit Transport, Unterkunft und Versorgung in ein ungefährdetes Gebiet in der Dringlichkeitsphase (Vor-Freisetzungs- und Freisetzungsphase). Er enthält keine Aussage darüber, ob die Bevölkerung nach kurzer Zeit an ihren Wohnort zurückkehren kann oder nicht. Rechtzeitig durchgeführt erzielt diese Maßnahme die höchstmögliche Schutzwirkung, nämlich die Vermeidung der äußeren und inneren Strahlenexposition über die in Tabelle 4.1 angegebenen Expositionspfade. Bei zu hoher Kontamination des Wohnorts kann der Übergang der „Evakuierung“ in eine „Umsiedlung“ erforderlich werden.



„Umsiedlung“ bezeichnet die Verlegung der Bevölkerung eines Gebiets in der Nachunfallphase; sie wirkt damit nur noch gegen die äußere Bestrahlung vom Boden und die Inhalation von in die Atemluft resuspendierten radioaktiven Stoffen. Die Resuspension abgelagerter radioaktiver Stoffe zeigt eine ausgeprägte Zeitabhängigkeit. Der Beitrag einer Inhalation luftgetragener radioaktiver Stoffe nach Resuspension zur Exposition von Personen ist für die betrachteten Szenarien nur gering und zeitlich abnehmend. Die Maßnahme „Umsiedlung“ wird im Allgemeinen erst nach dem Vorliegen flächendeckender Messwerte ausgesprochen, wobei im Hinblick auf die Durchführung und die Dauer zu unterscheiden ist zwischen „temporärer“ und „langfristiger Umsiedlung“.



Die „temporäre Umsiedlung“ ist für einen begrenzten Zeitraum gedacht; die betroffene Bevölkerung kann danach in ihre Wohngebiete zurückkehren; Dekontaminationsmaßnahmen in Wohngebieten und auf Landflächen können die Dauer der temporären Umsiedlung verkürzen. Die Infrastruktur und alle Produktions- und Versorgungseinrichtungen im betroffenen Gebiet können nach dem Ende der Maßnahme wieder genutzt werden. Damit sind die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen im Vergleich zur langfristigen Umsiedlung geringer.





Tab. 4.2:  Schutzfaktoren für äußere Exposition in Wohngebieten (Jacobi et al. 1989, Jacob 1998, Meckbach und Jacob 1988)




Schutzfaktoren für äußere Exposition
in Wohngebieten

Aufenthaltsort

aus der
radioaktiven Wolkeb)

kurz nach
Ablagerung

im Freien




Umgebung mit Bepflanzung (Bäume)

1,0 – 1,4

0,6c) – 2,0

städtische Umgebung mit Nachbargebäuden, ohne Bepflanzung (Bäume)

1,2 – 3,3

3,3 – 10

in Wohnräumen vona)




Fertigteilhäusern

1,2 – 10

1,2 – 2,5

Doppelhaushälften und Einfamilienreihenhäusern

3,3 – 50

Mehrfamilienhäusern und Häuserblöcken

10 – 200

25 – 1 000

in Kellerna)




mit Fenstern über dem Erdboden

10 – 1 000

20 – 100

ohne Fenster, Doppelhaushälfte

330 – 5 000

mit Lichtschächten und Fenstern, in Häuserblöcken

500 – 10 000

1 000 – 20 000





a)
Die Schutzfaktoren sind ohne mögliche Kontamination von Innenräumen berechnet. Falls die Flächenkontamination von Böden, Wänden und Decken innerhalb von Gebäuden etwa 1 % der Kontamination außerhalb beträgt, reduziert sich der tatsächliche Schutzfaktor auf maximal 100 und liegt damit für gut abgeschirmte Räume deutlich niedriger als in der Tabelle angegeben.
b)
Abschätzung basierend auf einer homogenen Radioaktivitätsverteilung in der Atmosphäre.
c)
Schutzfaktoren kleiner als eins ergeben sich aufgrund der erhöhten Ablagerung auf Bäumen bei trockener Deposition.




Die „langfristige Umsiedlung“ über einen unbestimmt langen Zeitraum ist dann erforderlich, wenn eine hohe Dosisleistung im betroffenen Gebiet aufgrund der Kontamination mit langlebigen Radionukliden nur langsam abnimmt. Als Konsequenz muss die betroffene Bevölkerung in anderen Gebieten neu angesiedelt und in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben integriert werden. Dies bedeutet nicht nur den Neubau von Wohnungen mit der notwendigen Infrastruktur und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern auch die Bewältigung sozialer Probleme durch den zumindest zeitweisen Verlust von Einkommen und die psychische Belastung der Betroffenen.



Die rechtzeitige „Einnahme von Iodtabletten“ schützt die Schilddrüse gegen in den Körper aufgenommenes radioaktives Iod. Dies ist wichtig für diejenigen Bevölkerungsgruppen, bei denen während des Durchzugs der radioaktiven Wolke die Inhalation von radioaktivem Iod mit der Atemluft erfolgt. Die Aufnahme radioaktiven Iods über Lebensmittel wird über die Versorgung mit nicht oder nur gering kontaminierten Lebensmitteln unterbunden bzw. reduziert.



Bei den Eingriffen in die Versorgung der Bevölkerung wird zwischen der vorsorglichen Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel und von Frischmilch in der Dringlichkeitsphase eines Ereignisses einerseits und Eingriffen in die Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln auf der Grundlage von Höchstwerten der Kontamination in der späteren Phase nach einer abgeschlossenen Radionukliddeposition andererseits unterschieden. Die genannte Warnung der Bevölkerung erfolgt in der Umgebung eines Emittenten spätestens zu Beginn einer gefahrenbringenden Freisetzung oder bei ungeklärter radiologischer Lage, im Fernbereich bei erheblichen Radionuklidkonzentrationen in der Luft oder nach Ablagerung am Boden. Die Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation sind in EG- und Euratom-Verordnungen (Euratom 1987, Euratom 1989a, Euratom 1989b, Euratom 1990, EG 2008) festgelegt und werden im Maßnahmenkatalog (SSK 2007) ausführlich erläutert.



Wichtigste Voraussetzung zur Erzielung der bestmöglichen Schutzwirkung von Maßnahmen bei einem kerntechnischen Unfall ist die sachgerechte und umfassende Information der Bevölkerung.



4.2 Grundsätze für die Planung und Einleitung von Maßnahmen im Ereignisfall



Ein schwerer Unfall in einem Kernkraftwerk, bei dem es infolge einer Kernschmelze und zusätzlichem Versagen von Rückhaltebarrieren zu einer hohen Freisetzung von Radionukliden des Kerninventars kommt, kann orts- und zeitabhängig schwerwiegende Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung erforderlich machen. Zu möglichen frühen Schutzmaßnahmen zählen insbesondere das „Aufsuchen von Gebäuden“, die „Einnahme von Iodtabletten“ zur Blockade der Schilddrüse, die „Evakuierung“, die „Warnung vor der Verwertung frisch geernteter Nahrungs- und Futtermittel“ und zu einer späteren Phase nach Erfassung der entstandenen radiologischen Situation gegebenenfalls auch für bestimmte Gebiete die Durchführung einer „temporären oder dauerhaften Umsiedlung“.



Bei der Ableitung von Kriterien, unter welchen Bedingungen solche Schutzmaßnahmen einzuleiten sind, sind nicht allein die mit einer Strahlenexposition verbundenen gesundheitlichen Risiken, sondern auch die Schwere des Eingriffs und damit verbundene Beeinträchtigungen für betroffene Personen zu berücksichtigen. Die Begrenzung des mit einer Strahlenexposition verbundenen gesundheitlichen Risikos basiert dabei auf folgenden Zielsetzungen:



Schwerwiegende deterministische Effekte sollen vermieden werden durch Maßnahmen zur Beschränkung der individuellen Strahlendosis auf Werte unter den Schwellendosen für diese Effekte.


Das Risiko stochastischer Effekte für die Einzelpersonen soll durch Maßnahmen herabgesetzt und hinreichend begrenzt werden.


Der Grundsatz der Vermeidung schwerwiegender deterministischer Effekte und hoher Risiken stochastischer Effekte ist die Basis der Arbeit des Katastrophenschutzes in der Umgebung kerntechnischer Anlagen. Den schwerwiegenden deterministischen Effekten wird dabei ein so großes Gewicht beigemessen, dass Maßnahmen zu ihrer Vermeidung in jedem Fall erforderlich und durchzuführen sind.



In Bezug auf stochastische Effekte ist die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einer exponierten Person dadurch in der Folgezeit zu einer malignen Erkrankung (Krebs oder Leukämie) kommt, von der Höhe der Dosis abhängig. Dem entsprechend bedarf es im Hinblick auf die Entscheidung bei der Planung von Schutzmaßnahmen im Einsatzfall einer sorgfältigen Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in das Leben von Einzelpersonen und der Höhe der Dosis ohne die Maßnahme. Das entspricht dem von der ICRP (ICRP 2007) als Strahlenschutzgrundsatz geforderten Prinzip der Rechtfertigung. Durch die Maßnahme soll mehr Nutzen als Schaden bewirkt werden. Dieses Prinzip der Verhältnismäßigkeit führt dazu, dass Maßnahmen, die einen geringen Eingriff in das Leben der Einzelperson bedeuten (z.B. der „Aufenthalt in Gebäuden“ und „Eingriffe in den Handel mit Lebens- und Futtermitteln“) bei niedrigeren Strahlendosen durchgeführt werden im Vergleich zu Maßnahmen, die die Lebensumstände stark beeinflussen (z.B. „Evakuierung“ und „Umsiedlung“).



Diesem Grundsatz entsprechend werden in diesen Radiologischen Grundlagen, wie in vorausgegangenen Fassungen, die Entscheidungsgrundlagen zur Ableitung von Referenzwerten und Eingreifrichtwerten eingehender behandelt. Dabei werden auch die neueren grundlegenden Empfehlungen der ICRP (ICRP 2007) berücksichtigt. Eine wichtige konzeptionelle Weiterentwicklung der ICRP stellt dabei die Unterscheidung in Expositionssituationen dar, wobei zwischen geplanten, Notfall- und bestehenden Expositionssituationen unterschieden wird. Bei all diesen Expositionssituationen gelten die Prinzipien der Rechtfertigung und Optimierung. Zu bestehenden Expositionssituationen zählen dabei insbesondere auch Bedingungen, die sich längerfristig aus einer Notfall-Expositionssituation ergeben können, nachdem die verursachende Quelle unter Kontrolle gekommen ist aber als Konsequenz noch Maßnahmen des Strahlenschutzes für Mensch und Umwelt angezeigt sind. Zentrale Bestandteile dieser aktuellen ICRP-Empfehlungen werden auch von der IAEA übernommen (IAEA 2011) und in der auch für Deutschland maßgeblichen Richtlinie 2013/59/Euratom (Euratom 2014). Darauf ist schon im Kapitel „Bezug zu internationalen Empfehlungen“ eingegangen worden, wo bereits auf die für den radiologischen Notfallschutz zentralen und hier näher behandelten Referenzwerte und Eingreifrichtwerte verwiesen worden ist.



4.3 Konzept für die Festlegung von Referenzwerten und Eingreifrichtwerten



Bei der Festlegung eines übergeordneten Referenzwerts der verbleibenden Dosis im ersten Jahr nach einem schweren Kernkraftwerksunfall und von Eingreifrichtwerten für die Einleitung von Maßnahmen sind die in der Strahlenschutzverordnung (BMU 2001) festgelegten Dosisgrenzwerte nicht anwendbar, da diese nach den Grundsätzen der Rechtfertigung und Optimierung einer plan- und steuerbaren Strahlenexposition abgeleitet wurden. Außerdem regelt die Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) im Allgemeinen Tätigkeiten, die kontinuierlich ausgeführt werden (z.B. Betrieb von Kernkraftwerken, Anwendungen von Radionukliden in Medizin, Forschung und Technik).



Bei der Festlegung und Begründung von Referenzwerten und von Eingreifrichtwerten werden folgende Entscheidungsgrundlagen berücksichtigt:



Dosis-Risiko-Beziehungen für stochastische Effekte,


Dosis-Wirkungs-Beziehungen für deterministische Effekte,


Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben bei den verschiedenen Maßnahmen,


Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und


Höhe und Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition.


Der Referenzwert der verbleibenden Dosis bezieht sich auf die effektive Dosis, die Personen im Laufe des ersten Jahres über alle wirksamen Expositionspfade Inhalation, äußere Bestrahlung und Ingestion durch beim Unfall freigesetzte Radionuklide unter realistischen Annahmen und Bedingungen erhalten. Eingreifrichtwerte für einzelne Maßnahmen beziehen sich hingegen auf eine unter der Annahme bestimmter Verhaltensweisen der betreffenden Bevölkerung zu erwartende Dosis, die erreicht oder überschritten werden könnte, falls eine bestimmte Maßnahme nicht durchgeführt würde. So wird beispielsweise bei der Entscheidung über die Durchführung der Maßnahme „Evakuierung“ in diesen Radiologischen Grundlagen die Dosis zugrunde gelegt, die sich ergeben würde, falls sich eine Person an dem betrachteten Ort für eine bestimmte Zeit (in diesem Fall sieben Tage) permanent und ohne weiteren Schutz im Freien aufhält. Bei der Ermittlung dieser erwarteten Dosis werden diejenigen Expositionspfade einbezogen gegen die die Maßnahme wirkt. Das sind bei der Maßnahme „Evakuierung“ die Inhalation von freigesetzten Radionukliden und die externe Strahlung durch Radionuklide in der vorbeiziehenden Schadstoffwolke und nach trockener oder nasser Ablagerung auf dem Boden und anderen Oberflächen.



Bei der Begründung und Festlegung des übergeordneten Referenzwerts der verbleibenden (effektiven) Dosis im ersten Jahr nach einem schwerwiegenden Unfall eines Kernkraftwerks ist zu beachten, dass es sich um ein zeitlich und räumlich singuläres Ereignis handelt und die dadurch verursachte zusätzliche Strahlenexposition auf noch tolerable und verhältnismäßige Werte begrenzt bleiben soll. Das erfordert eine Abwägung zwischen der Schwere von Eingriffen in das Leben der Bevölkerung, wozu auch soziale und wirtschaftliche Aspekte zählen, und dem gesundheitlichen Risiko, das mit der durch den Unfall verursachten zusätzlichen Strahlenexposition verbunden ist. Eine wichtige Orientierung bei diesem Abwägeprozess ist die Höhe der natürlichen Strahlenexposition, der jeder in Deutschland ausgesetzt ist, und deren Schwankungsbreite. Die effektive Lebenszeitdosis beträgt bei einer Bezugszeit von 70 Jahren im Mittel etwa 150 mSv und bewegt sich in einer Schwankungsbreite zwischen ungefähr 100 mSv und 400 mSv. Damit läge ein auf 100 mSv festgelegter Referenzwert der verbleibenden Dosis im ersten Jahr noch deutlich innerhalb dieser Schwankungsbreite der Lebenszeitdosis durch natürliche Ursachen von rund 300 mSv. Dabei ist zu beachten, dass auch für Notfall- und bestehende Expositionssituationen das Gebot der Optimierung auch unterhalb der zugehörigen Referenzwerte der verbleibenden Dosis besteht. Dieser Wert von 100 mSv im ersten Jahr entspricht dem oberen Wert des von ICRP (ICRP 2007) vorgeschlagenen Wertebereichs für den Referenzwert der verbleibenden (effektiven) Dosis von 20 mSv bis 100 mSv (vgl. auch Abschnitt 1.2). Damit verdeutlicht die ICRP, dass bei der Wahl und Festlegung des Referenzwerts der verbleibenden Dosis eine Abwägung erforderlich ist, bei der die Schwere des radiologischen Ereignisses und gegebenenfalls erforderlicher Maßnahmen des Notfallschutzes und das gesundheitliche Risiko einer dadurch verursachten Strahlenexposition einbezogen werden. ICRP bringt dabei zum Ausdruck, dass bei sehr schwerwiegenden Ereignissen wie einem Kernkraftwerksunfall eine effektive Dosis von 100 mSv, die eine Person im Laufe des ersten Jahres nach einem solchen Ereignis erhält, noch als tolerables und verhältnismäßiges gesundheitliches Risiko angesehen werden kann. Auch die Strahlenexposition durch natürliche Ursachen während der Lebenszeit stellt hierbei eine angemessene Vergleichsgröße dar. Ein Zusammenhang zwischen der natürlichen Strahlenexposition und gesundheitlichen Wirkungen ist in Deutschland, mit Ausnahme des speziellen Falls einer erhöhten Radonexposition der Lunge innerhalb von Gebäuden, nicht festgestellt worden.



Ein Referenzwert der effektiven Dosis von 100 mSv für die verbleibende Dosis im ersten Jahr bezieht sich auf die gesamte Bevölkerung und schließt Kinder, Jugendliche und Schwangere mit ein. Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens bei einer solchen Dosis Krebs oder Leukämie zu entwickeln, ist dabei immer noch klein (ca. 2 % gemäß (ICRP 2007)) im Vergleich zu den anderen, normalen Lebensumständen entsprechenden Ursachen (Krebsinzidenz ca. 50 % gemäß (RKI 2012)). Das gilt auch bei Berücksichtigung einer um einen Faktor von 2 bis 3 höheren Strahlenempfindlichkeit während der in-utero-Entwicklung und in der Kindheit. Dabei ist dieser Referenzwert zur Begrenzung stochastischer Strahleneffekte als ein oberer Startwert für die Planung und schnelle Durchführung von Schutzmaßnahmen zu sehen. In jedem Fall gilt das Gebot der Optimierung des Strahlenschutzes selbstverständlich auch unterhalb des Referenzwerts der verbleibenden Dosis.



Dieser Referenzwert von 100 mSv im ersten Jahr wird in diesen Radiologischen Grundlagen für die Planung von frühen Schutzmaßnahmen und im Ereignisfall für die Durchführung von Schutzmaßnahmen in den frühen Phasen (Dringlichkeitsphase und Übergangsphase) eines schweren Kernkraftwerksunfalls herangezogen. Sobald die entstandene radiologische Lage genauer erfasst ist, besteht die Möglichkeit, den Referenzwert an die eingetretenen Bedingungen anzupassen, d. h. entsprechend abzusenken, und durch geeignete Schutzmaßnahmen in der anschließenden späteren Phase eines Unfalls eine Exposition zu begrenzen. Das kann bei sehr schwerwiegenden radiologischen Situationen auch für bestimmte Gebiete eine vorübergehende oder längerfristige Umsiedlung bedeuten. Nach Abschluss signifikanter Freisetzungen aus dem Unfall-Kernkraftwerk und Erfassung der räumlichen und für den weiteren Verlauf prognostizierbaren zeitlichen Entwicklung der radiologischen Lage wird auch den Empfehlungen der ICRP (ICRP 2007) entsprechend zumindest gebietsweise der Übergang zu einer bestehenden Expositionssituation und damit eine neue Festlegung eines Referenzwerts im Bereich 1 mSv/a bis 20 mSv/a erfolgen können. Dieser erst unter Berücksichtigung wesentlicher Umstände festzulegende Referenzwert wird auch bei einer Entscheidung über die Aufhebung vorher veranlasster Zugangsbeschränkungen oder Umsiedlung aus stärker kontaminierten Gebieten eine wichtige Rolle spielen. Auch für diesen Referenzwert der verbleibenden Dosis pro Jahr bei einer bestehenden Expositionssituation sind weitere Anpassungen im Laufe der Zeit anzustreben mit der Zielsetzung, möglichst auf einen Wert im Bereich von 1 mSv/a abzusenken.



Der Referenzwert von 100 mSv für die verbleibende effektive Dosis im ersten Jahr bei einem schweren Kernkraftwerksunfall ist ein abgeleitetes radiologisches Schutzziel zur Konkretisierung der übergeordneten Zielsetzung, durch Schutzmaßnahmen die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten stochastischer Effekte hinreichend zu begrenzen. Dabei gilt auch für Expositionen unterhalb dieses Referenzwerts das ALARA-Prinzip. Die Planung und Durchführung von konkreten Schutzmaßnahmen dienen diesem Schutzziel. Durch sie sollen verbleibende Dosen so reduziert werden, dass ein Überschreiten des Referenzwerts weitgehend vermieden wird und erhaltene Dosen auch unterhalb des Referenzwerts unter Beachtung der waltenden Umstände möglichst niedrig sind. Dazu zählt insbesondere ein Abwägen zwischen der Höhe erwartbarer Individualdosen ohne oder mit in Frage stehender Schutzmaßnahmen und der mit diesen Maßnahmen verbundenen Schwere des Eingriffs in das Leben der Bevölkerung. Der Referenzwert der verbleibenden Dosis ist den im Folgenden diskutierten und begründeten Eingreifrichtwerten für die verschiedenen Schutzmaßnahmen übergeordnet.



Eingreifrichtwerte sind Dosiswerte, die Personen unter bestimmten Annahmen zu den Expositionsbedingungen erhalten oder erhalten könnten. Sie fungieren als radiologisches Auslösekriterium (Triggerwerte) für die jeweilige Schutzmaßnahme. Eingreifrichtwerte sind Planungswerte, Eingreifwerte sind die im Ereignisfall zur Anwendung gelangenden Werte. Von den Eingreifrichtwerten sollte im Ereignisfall nur beim Vorliegen gewichtiger Gründe abgewichen werden, z.B. wenn die so definierte Zuordnung von Maßnahmen und Gebieten im Konflikt mit schwerwiegenden Einflussfaktoren steht (siehe Kapitel 5).



Eingreifwerte, die über den Eingreifrichtwerten liegen, können dann gerechtfertigt sein, wenn die Durchführung der Maßnahme mit großen Nachteilen verbunden oder die vermeidbare Dosis gering ist.



Eingreifwerte, die unter den Eingreifrichtwerten liegen, sind allein aus radiologischen Gründen nicht gefordert. Grundsätzlich gilt auch bei Strahlenexpositionen unterhalb der Eingreifrichtwerte das ALARA-Prinzip.



In jedem Fall muss die Bevölkerung unter Angabe geeigneter Vergleichsgrößen über das Strahlenrisiko informiert werden.



Insbesondere bei grenzüberschreitenden Ereignissen sollten die Maßnahmen zwischen den betroffenen Staaten abgestimmt werden, um die Anwendung unterschiedlicher Eingreifwerte in verschiedenen Regionen zu vermeiden.



Die Kollektivdosis ist als Entscheidungsgrundlage für Schutzmaßnahmen nicht geeignet.



4.4 Eingreifrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen



Die hier behandelten Eingreifrichtwerte für Schutzmaßnahmen beziehen sich auf die effektive Dosis oder im Fall der Schilddrüse auf die Organdosis zur Begrenzung stochastischer Effekte. Die angemessene Dosiseinheit ist daher Sievert. Die jeweiligen Eingreifrichtwerte sind Dosiswerte, die deutlich unterhalb von Dosisschwellen für deterministische Effekte liegen. Die hier für frühe Maßnahmen vorgesehenen Eingreifrichtwerte beziehen sich auf die Maßnahmen:



„Aufenthalt in Gebäuden“,


„Einnahme von Iodtabletten“ und


„Evakuierung“.


Diesen Eingreifrichtwerten ist gemeinsam, dass sie sich auf eine Exposition infolge des Vorbeizugs freigesetzter radioaktiver Stoffe durch atmosphärische Ausbreitung und dabei auftretende Strahlenexposition durch luftgetragene und abgelagerte Radionuklide beziehen. Bei der Festlegung dieser Eingreifrichtwerte ist zu beachten, dass sie mit dem übergeordneten Referenzwert der verbleibenden Dosis verträglich sind, also nicht von vorneherein dessen Einhaltung im Verlauf des ersten Jahres in Frage stellen. Allen diesen Eingreifrichtwerten ist gemeinsam, dass sie sich auf einen frühen Zeitraum von sieben Tagen nach Eintritt des Unfalls beziehen. Die Entscheidung über die Durchführung der jeweiligen Schutzmaßnahme kann somit gegebenenfalls auch schon in der Vor-Freisetzungsphase, also vor einem Eintritt einer erheblichen Freisetzung erfolgen. In der Regel wird die für die Entscheidungsfindung ermittelte Dosis auf Informationen und Daten aus der vom Unfall betroffenen Anlage und auf Prognosen zum Quellterm und zu den vorherrschenden Ausbreitungsbedingungen basieren, möglicherweise ergänzt durch erste Messwerte. Mit der Bezugszeit von sieben Tagen wird gleichzeitig auch der für schwere deterministische Strahleneffekte relevante Zeitraum mit erfasst und somit erreicht, dass diese bei rechtzeitiger Umsetzung der Schutzmaßnahme „Evakuierung“ zuverlässig vermieden werden können.



Bei den für die Entscheidung über die Durchführung der fraglichen Maßnahme ermittelten Dosiswerten handelt es sich um potenzielle Dosen, die nicht realen Dosen entsprechen, sondern nur unter konstruierten Annahmen auftreten könnten. So wird als Verhaltensweise von Personen unterstellt, dass sie sich während der gesamten Bezugszeit von sieben Tagen ohne Unterbrechung ungeschützt im Freien aufhalten. Die Wahl einer Bezugszeit von sieben Tagen bei der Prognose von potenziellen Dosiswerten unter der gleichzeitigen Annahme eines Daueraufenthalts im Freien stellt eine sehr vorsichtige Annahme bei der Entscheidung über Schutzmaßnahmen dar. Diese Annahme wird damit begründet, dass in der Lebenswirklichkeit der Menschen zum Teil sehr unterschiedliche Verhaltensweisen mit unterschiedlichen Schutzfaktoren vorhanden sind, die schwierig zu erfassen sind und die z.B. auch saisonal (Sommer, Winter) unterschiedlich sein können. Ein weiterer Grund ist die Vereinfachung der Dosisprognose. Dem gegenüber bezieht sich der übergeordnete Referenzwert der verbleibenden effektiven Dosis im ersten Jahr auf eine reale oder realistisch zu erwartende Dosis, die sich unter Berücksichtigung getroffener Schutzmaßnahmen und gängiger Verhaltensweisen der Bevölkerung ergibt. Generell gilt, dass die zur Anwendung kommenden Schutzmaßnahmen auf der Basis von Eingreifrichtwerten und des Referenzwerts der verbleibenden Dosis als Bestandteile eines Gesamtkonzepts zum Schutz der Bevölkerung in radiologischen Notfallsituationen zu sehen sind.



Auf die weiteren Maßnahmen „temporäre Umsiedlung“ oder „langfristige Umsiedlung“, die erwartungsgemäß erst nach Erfassung der entstandenen radiologischen Lage und nicht kurzfristig in der Frühphase eines Kernkraftwerksunfalls veranlasst werden, sowie auf „Eingriffe in die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln“ wird im Anschluss eingegangen.



4.4.1 Aufenthalt in Gebäuden



Der kurzzeitige Aufenthalt in schützenden Räumen abseits von Türen und Fenstern oder in Kellern stellt einen im Vergleich zur „Evakuierung“ und „Umsiedlung“ geringen Eingriff in das Leben der Bevölkerung dar. Relevante Expositionspfade (siehe Tabelle 4.1) sind die äußere Bestrahlung aus der radioaktiven Wolke und durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide sowie die innere Bestrahlung nach Inhalation. Als Integrationszeitraum der Dosis wird der Zeitraum von sieben Tagen festgelegt, wobei es sich bei in diesem Zeitraum inkorporierten Radionukliden um eine Folgedosis handelt. Bei der Festlegung dieses Zeitraums wurde auch davon ausgegangen, dass sich über einen noch längeren Zeitraum ein überwiegender „Aufenthalt in Gebäuden“ nicht aufrechterhalten lässt. Der größte Teil der Bevölkerung würde in diesem Fall das betroffene Gebiet vermutlich ohne Aufforderung verlassen.



Diese Schutzmaßnahme kann mit der Maßnahme „Einnahme von Iodtabletten“ kombiniert werden. Ebenfalls denkbar ist, dass die anfängliche Aufforderung zum „Aufenthalt in Gebäuden“ bei einer Verschlimmerung der radiologischen Lage in die Katastrophenschutzmaßnahme „Evakuierung“ übergeht.



Eingreifrichtwert für die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“:



10 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide.



Die Aufforderung zum vorübergehenden „Aufenthalt in Gebäuden“ stellt angesichts des sehr seltenen Ereignisses eines schweren Kernkraftwerksunfalls keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Leben der davon betroffenen Bevölkerung dar. Der Eingreifrichtwert von 10 mSv ist ein „Triggerwert“, bei dessen Erreichen oder Überschreiten die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ umgesetzt würde. Berücksichtigt man, dass es sich dabei um einen potenziellen Dosiswert handelt, der sich auf einen angenommenen Aufenthalt von sieben Tagen ungeschützt im Freien bezieht, so ist die reale Einsatzschwelle der effektiven Dosis noch erheblich niedriger.



4.4.2 Einnahme von Iodtabletten



Die rechtzeitige Einnahme von Iodtabletten schützt die Schilddrüse gegen inkorporiertes Radioiod. Radioaktives Iod kann über die Atemwege (Inhalation) sowie über den Verzehr kontaminierter Lebensmittel (Ingestion) in den menschlichen Körper gelangen (Inkorporation). Ohne Schutzmaßnahmen kann bei einem Kernkraftwerksunfall während der Vegetationsperiode die Ingestionsdosis infolge des Verzehrs lokal erzeugter Nahrungsmittel erheblich größer sein als die Inhalationsdosis. Bei der Entscheidung über die „Einnahme von Iodtabletten“ ist aber zu beachten, dass zur Vermeidung oder effizienten Verminderung einer Ingestion von Radioiod die Maßnahmen „Warnung der Bevölkerung vor der Verwertung frisch geernteter Nahrungs- und Futtermittel aus kontaminierten Gebieten“ sowie die „Einführung und Überwachung von Nahrungsmittel-Höchstwerten“ vorgeplant und wirksam sind.



Die „Einnahme von Iodtabletten“ bedeutet einen geringen Eingriff in das Leben der Bevölkerung. Bei der Festlegung des Eingreifrichtwerts sind allerdings mögliche Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Nach Abwägung von Nutzen und Risiken wurde ein Eingreifrichtwert von 50 mSv Schilddrüsendosis für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv für Personen ab 18 Jahren bis 45 Jahre als angemessen erachtet (SSK 2011). Angaben zu Art und Dosierung der Tabletten befinden sich im Anhang.



Personen über 45 Jahren wird von einer Einnahme der Tabletten abgeraten, da für diese das Risiko von Nebenwirkungen durch die Iodtabletteneinnahme größer ist als der Schutz vor möglichen Strahlenschäden. Sie sind durch die für alle Altersgruppen vorgesehenen Maßnahmen „Aufenthalt in Gebäuden“, „Eingriffe in den Handel mit Lebens- und Futtermitteln“ und „Evakuierung“ ausreichend geschützt.



Eingreifrichtwert für die „Einnahme von Iodtabletten“:



50 mSv Schilddrüsendosis (Organfolgedosis) bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv bei Personen ab 18 Jahren bis 45 Jahren durch das im Zeitraum von sieben Tagen inhalierte Radioiod.



4.4.3 Evakuierung



Die Maßnahme „Evakuierung“ stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Leben der Bevölkerung dar. Der Eingreifrichtwert für diese Maßnahme bezieht sich wie bei den frühzeitigen Maßnahmen „Aufenthalt in Gebäuden“ und „Einnahme von Iodtabletten“ auf die potenzielle Dosis, die eine Person bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien über sieben Tage erhalten würde. Relevante Expositionspfade (siehe Tabelle 4.1) sind die äußere Bestrahlung aus der radioaktiven Wolke und durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide sowie die innere Bestrahlung nach Inhalation. Mit dieser Integrationszeit sind die Beiträge zur Kurzzeitdosis, die für deterministische Effekte relevant ist, gleichzeitig konservativ erfasst.



Wegen der Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben ist ein Eingreifrichtwert von 100 mSv effektive Dosis angemessen. Damit liegt er in einem zur natürlichen Strahlenexposition über die Lebensdauer vergleichbaren Bereich und ist auch verträglich mit dem übergeordneten Referenzwert der verbleibenden effektiven Dosis im ersten Jahr von 100 mSv. Das lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Bei Überschreitung des Eingreifrichtwerts für die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ von 10 mSv könnte theoretisch der Fall eintreten, dass der höhere Eingreifrichtwert für die Maßnahme „Evakuierung“ von 100 mSv gerade noch unterschritten wird und diese Maßnahme nicht veranlasst wird. Bei Durchführung der Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ ist in Abschnitt 4.1 als vorsichtiger Schutzfaktor für Planungszwecke sowohl für externe Strahlung aus einer vorbeiziehenden Schadstoffwolke und durch abgelagerte Radionuklide als auch für Inhalation innerhalb des Gebäudes eine Reduktion um den Faktor 3 genannt worden. Um diesen vorsichtig gewählten Faktor wäre eine Exposition innerhalb eines Gebäudes geringer als bei Daueraufenthalt im Freien. Damit wäre in dem konstruierten Beispiel die erhaltene effektive Dosis mit ca. 30 mSv noch so weit unter dem Referenzwert von 100 mSv, dass dessen Erreichen im Verlauf des ersten Jahres durch weitere spätere Maßnahmen vermieden werden könnte.2



Eingreifrichtwert für „Evakuierung“:



100 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide.



4.4.4 Kombination früher Schutzmaßnahmen



Bei einem schweren Kernkraftwerksunfall sind die Prognose sowohl des Zeitpunkts, an dem größere Freisetzungen aus der Anlage in die Atmosphäre einsetzen, als auch des weiteren zeitlichen Verlaufs sowie der Höhe und Zusammensetzung freigesetzter Radionuklide mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Alle Parameter hängen ganz wesentlich davon ab, in welchem Maße anlageninterne Barrieren wirksam sind und inwieweit verfügbare Unfallmanagement-Maßnahmen Freisetzungen vermindern oder deren zeitlichen Verlauf beeinflussen.



Kriterien für den Zeitpunkt und die räumlichen Bereiche, in denen die frühen Katastrophenschutzmaßnahmen



„Aufenthalt in Gebäuden“,


„Verteilung und Einnahme von Iodtabletten“ und


„Evakuierung“


umgesetzt werden, sind Dosisprognosen auf der Grundlage drohender und bereits erfolgter sowie weiterhin zu befürchtender Freisetzungen radioaktiver Stoffe aus der vom Unfall betroffenen Anlage. Diese Dosisprognosen stellen erwartete Dosiswerte der effektiven Dosis oder der Schilddrüsendosis über Inhalation und externe Strahlung mit denselben Annahmen (Daueraufenthalt im Freien über sieben Tage) dar, die auch den jeweiligen Eingreifrichtwerten zugrunde liegen. Allein schon wegen der prognostischen Unsicherheiten bei Menge, Nuklidzusammensetzung und zeitlicher Verteilung freigesetzter radioaktiver Stoffe (Quellterm) sowie der Variabilität atmosphärischer Ausbreitungsbedingungen und damit einhergehenden trockenen oder nassen (Regen) Ablagerungen sollten veranlasste Schutzmaßnahmen in gerechtfertigtem Umfang vorsorglich sein. Das gilt besonders für den unmittelbaren Nahbereich der Anlage. Für zunehmende Entfernungen von der Anlage wird der technische und personelle Aufwand für die Umsetzung der Maßnahmen ansteigen. Damit kommt auch dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zwischen der Höhe potenzieller Strahlenexposition und den nachteiligen Konsequenzen der jeweiligen Schutzmaßnahme eine wachsende Bedeutung zu.



Die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ kann relativ zügig umgesetzt und dann für eine begrenzte Zeitdauer aufrechterhalten werden. Mit Fortdauer der Maßnahme wachsen jedoch die Probleme, die ihre Aufrechterhaltung über Zeiträume von mehr als ein oder zwei Tagen schwierig machen.



Die Maßnahme „Einnahme von Iodtabletten“ setzt eine Vorverteilung oder eine schnelle Versorgung im Ereignisfall voraus. Die Bevölkerung wird aufgefordert, die Iodtabletten einzunehmen, wenn eine Freisetzung aus der Anlage droht oder bereits eingesetzt hat. Bei größeren Entfernungen von der Anlage in Ausbreitungsrichtung der radioaktiven Wolke kommt noch eine Zeitreserve bis zu deren Ankunft hinzu. Eine hohe Schutzwirkung (über 90 % Dosiseinsparung) wird erzielt, wenn die Iodtabletten vor Ankunft (bis zu 12 Stunden) der radioaktiven Wolke eingenommen werden. Wenn die Tabletten erst eingenommen werden, wenn bereits radioaktives Iod in den Körper gelangt ist, nimmt die Schutzwirkung mit dem Zeitverzug der Einnahme schnell ab. Beide Maßnahmen „Aufenthalt in Gebäuden“ sowie die zeitnahe Verteilung von Iodtabletten in Verbindung mit der Aufforderung zu deren Einnahme zum gegebenen Zeitpunkt, sollten möglichst kombiniert werden.



Je nach der zu befürchtenden oder prognostizierten Höhe sowie der zeitlichen Entwicklung von Freisetzungen aus der Anlage kann das bedeuten, dass für Gebiete, die nicht in unmittelbarer Nähe der betroffenen Anlage liegen sondern in Entfernungen von z.B. mehr als 5 km, die aber bei einer Freisetzung aufgrund der vorliegenden oder zu erwartenden atmosphärischen Ausbreitungsbedingungen stärker beaufschlagt werden könnten, zunächst der „Aufenthalt in Gebäuden“ als frühzeitige Schutzmaßnahme für die dortige Bevölkerung veranlasst wird. Diese Maßnahme sollte, wie schon angesprochen, mit der Verteilung und mit der Aufforderung zur „Einnahme von Iodtabletten“ zum gegebenen Zeitpunkt kombiniert werden. Durch den „Aufenthalt in Gebäuden“ wird sowohl eine äußere Exposition durch die Direktstrahlung aus einer radioaktiven Wolke sowie den aus ihr abgelagerten Radionukliden als auch die Inhalation von in das Gebäudeinnere eindringenden lungengängigen Partikeln reduziert (vgl. Tabelle 4.2). Durch eine zeitnahe „Einnahme von Iodtabletten“ und die dadurch bewirkte Iodblockade wird eine Schilddrüsendosis durch das Einatmen von radioaktivem Iod stark gemindert.



Abhängig von der weiteren Entwicklung in der kerntechnischen Anlage sowie bei absehbaren oder bereits erfolgenden schwerwiegenden Freisetzungen kann eine „Evakuierung“ von Gebieten erforderlich werden, in denen zunächst der „Aufenthalt in Gebäuden“ veranlasst worden ist. Das wäre dann der Fall, wenn aufgrund der Prognosen zur Freisetzung aus der Anlage sowie zur Beaufschlagung der fraglichen Gebiete und/oder der bereits erfolgten bzw. gegebenenfalls fortdauernden Freisetzungen der Eingreifrichtwert für die Maßnahme „Evakuierung“ überschritten würde. In diesem Fall wäre der Schutz durch weiteren „Aufenthalt in Gebäuden“ nicht mehr ausreichend gewährleistet. Damit sollte rechtzeitig eine „Evakuierung“ der Bevölkerung aus dem gefährdeten Gebiet in voraussichtlich nicht oder nur geringfügig betroffenes Gebiet veranlasst und organisiert werden.



Aber auch unter diesen Bedingungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass während der Durchführung der Evakuierungsmaßnahmen freigesetzte Radionuklide dort aufgrund der herrschenden Ausbreitungsbedingungen luftgetragen durchziehen und in Form von trockener oder nasser Deposition abgelagert werden. Dadurch können Personen, deren Evakuierung gerade durchgeführt wird, zeitweise eine höhere Exposition erhalten, als wenn sie sich noch in den Gebäuden aufhielten. Soweit Iodtabletten entsprechend den Dosierungsempfehlungen eingenommen wurden, besteht während der Evakuierungsmaßnahmen und dem daraus folgenden vorübergehenden Aufenthalt im Freien ein Schutz der Schilddrüse gegenüber der Aufnahme von Iodisotopen aus einer eventuell vorüberziehenden radioaktiven Wolke. Zwar würde nach erfolgter Evakuierung eine weitere Strahlenexposition über externe Strahlung und Inhalation vermieden, letztlich ist dazu aber immer ein Abwägungsprozess durchzuführen, bei dem verfügbare Informationen über zu erwartende Bedingungen im vom Unfall betroffenen Kernkraftwerk in Verbindung mit der Kenntnis der voraussichtlichen radiologischen Lage im zu evakuierenden Gebiet einbezogen werden müssen. Hierdurch kann durch Steuerung des Zeitpunkts und der zeitlichen und organisatorischen Abläufe der Evakuierung eine Strahlenexposition verhältnismäßig gering gehalten werden. Es stehen sich dabei eine Exposition bei länger andauerndem „Aufenthalt in Gebäuden“ unter Berücksichtigung von deren Schutzwirkung und eine Exposition während der Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen, mit vorübergehend erhöhter Exposition primär durch luftgetragene Aktivität im Falle einer durchziehenden radioaktiven Wolke, gegenüber. Letztlich ist für die Katastrophenschutzbehörden aus radiologischer Sicht die vermiedene Dosis der Maßstab bei den zu bedenkenden Handlungsalternativen.



4.4.5 Temporäre und langfristige Umsiedlung



Die Entscheidung über die Schutzmaßnahmen „temporäre Umsiedlung“ und „langfristige Umsiedlung“ kann erst dann fundiert erfolgen, wenn die durch den Kernkraftwerksunfall verursachte radiologische Lage erfasst ist. Diese ist maßgeblich bestimmt durch die Höhe und räumliche Verteilung der Kontamination durch trocken oder nass (Regen) abgelagerte Radionuklide und deren für eine Exposition ausschlaggebende Eigenschaften wie Halbwertszeit, emittierte (z.B. durchdringende) Strahlung, Strahlendosis nach Inkorporation (Dosiskoeffizient), Verhalten in der Biosphäre, etc. Relevante Radionuklide sind dabei insbesondere eine Reihe von Iodisotopen, die relativ kurze Halbwertszeiten im Bereich von Tagen aufweisen, und die beiden Cs-Isotope Cs-134 (T1/2 = 2,1 a) und Cs-37 (T1/2 = 30 a). Die über längere Zeiten wirksame externe Strahlung durch gamma-emittierende Radionuklide ist für die Exposition der Bevölkerung maßgeblich. Die Inhalationsdosis als Folge der Resuspension von abgelagerten Radionukliden ist gegenüber der äußeren Exposition so gering, dass sie vernachlässigt werden kann.



In Gebieten, in denen bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine „Evakuierung“ erfolgt ist, kann diese zunächst kurzfristige Maßnahme in eine „temporäre oder langfristige Umsiedlung“ übergehen. Für diese Maßnahmen werden hier keine Eingreifrichtwerte festgelegt. Nach Erfassung der entstandenen radiologischen Lage können so weitreichende Maßnahmen auf einer wesentlich fundierteren Grundlage mit geringerer Eilbedürftigkeit entschieden werden, da die über längere Zeitdauern akkumulierten Strahlendosen über externe Exposition durch Gamma-Strahlung ausschlaggebend sind. Der Ingestionspfad muss nicht berücksichtigt werden, da vorausgesetzt werden kann, dass genügend nicht oder nur schwach kontaminierte Lebensmittel zur Verfügung stehen.



In einem solchen Fall ist der Referenzwert der verbleibenden effektiven Dosis im ersten Jahr nach Eintritt des Unfalls die geeignete Vergleichsgröße. Für die Entscheidungsfindung über die fragliche Maßnahme wird die über alle Expositionspfade in diesem Zeitraum zu erwartende effektive Dosis ermittelt und dem Referenzwert gegenübergestellt. Die Ermittlung dieser verbleibenden Dosis im Verlauf des ersten Jahres sollte möglichst realitätsnah erfolgen und den Einfluss von durchgeführten Schutzmaßnahmen und gängigen Verhaltensweisen der Bevölkerung einbeziehen.



In der folgenden Tabelle 4.3 sind die Eingreifrichtwerte, im Sinne von Auslöse- oder Triggerwerten für die frühen Maßnahmen zusammengestellt. Diese Eingreifrichtwerte und der Referenzwert der verbleibenden Dosis von 100 mSv stellen miteinander vereinbare Konzepte und Größen dar:



Tab. 4.3:  Eingreifrichtwerte für die Maßnahmen „Aufenthalt in Gebäuden“, „Einnahme von Iodtabletten“ und „Evakuierung“




Eingreifrichtwerte

Maßnahme

 Organdosis (Schilddrüse) 

 effektive Dosis 

Integrationszeiten und Expositionspfade 

Aufenthalt in Gebäuden 


10 mSv

äußere Exposition in 7 Tagen und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien

Einnahme von Iodtabletten 

50 mSv
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schwangere, 250 mSv
Personen von 18 bis 45 Jahren


Organ-Folgedosis durch im Zeitraum von 7 Tagen inhaliertes Radioiod bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien

Evakuierung


100 mSv

äußere Exposition in 7 Tagen und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien



Ist bei lang anhaltenden Freisetzungen der Zeitraum des Wolkendurchzugs in einzelnen Gebieten größer als sieben Tage, dann ist zum Zeitpunkt der Entscheidung über Maßnahmen auf der Basis einer prognostizierten Dosis für die folgenden sieben Tage die bereits vorab erhaltene Dosis einzubeziehen. Diese schon erhaltene Dosis sollte dabei unter realistischen Annahmen abgeschätzt werden.



4.4.6 Eingriffe in die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln



Bei den Eingriffen in die Versorgung der Bevölkerung wird zwischen der (vorsorglichen) „Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel und von Frischmilch“ einerseits und „Eingriffen in die Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln“ auf der Grundlage von Höchstwerten der Kontamination andererseits unterschieden. Die genannte Warnung der Bevölkerung erfolgt in der Umgebung eines Emittenten spätestens zu Beginn einer gefahrbringenden Freisetzung oder bei ungeklärter radiologischer Lage, im Fernbereich bei erheblichen Radionuklidkonzentrationen in der Luft. Die Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation sind in EG- und Euratom-Verordnungen (Euratom 1987, Euratom 1989a, Euratom 1989b, Euratom 1990, EG 2008) festgelegt und werden im Maßnahmenkatalog (SSK 2007) ausführlich erläutert.



4.5 Abgeleitete Richtwerte



Abgeleitete Richtwerte kommen zur Anwendung, wenn eine Freisetzung gerade erfolgt oder bereits abgeschlossen ist. Allerdings sind die für Entscheidungen über Maßnahmen bestimmenden Strahlendosen, z.B. die effektive Dosis in sieben Tagen, in aller Regel nur durch Rechnung und nicht unmittelbar durch Messung zu ermitteln. Daher müssen die festgelegten Eingreifrichtwerte auf messbare Größen zurückgeführt werden, anhand derer über die Einleitung von Maßnahmen entschieden werden kann. Solche Werte werden als abgeleitete Richtwerte (engl. Operational Intervention Level, OIL) bezeichnet.



Geeignete Messgrößen sind:



Ortsdosisleistung,


(zeitintegrierte) Aktivitätskonzentration in der Luft,


Oberflächenkontamination auf dem Boden, auf Gegenständen, auf der Haut und


spezifische Aktivität z.B. in Nahrungsmitteln und Trinkwasser, in Oberflächengewässern, in Futtermitteln, in Böden.


Um Messergebnisse der oben angegebenen Messgrößen in Strahlendosen umrechnen zu können, müssen in der Regel zusätzliche Annahmen getroffen werden, beispielsweise bei der Ortsdosisleistung über deren Verlauf in Vergangenheit und Zukunft sowie die Expositionszeit. Allgemein beruht die Bestimmung der abgeleiteten Richtwerte auf folgenden Voraussetzungen:



Ein Messverfahren zur Bestimmung der abgeleiteten Größe ist festgelegt.


Zwischen der abgeleiteten Größe und der Dosis existiert ein durch Modellannahmen festgelegter Zusammenhang, der die Expositionsbedingungen widerspiegelt.


Damit das Prinzip der Beschränkung der Individualdosis eingehalten wird, müssen in den Modellen die Eigenschaften besonders sensitiver Personengruppen im Sinne der bereits eingeführten repräsentativen Person und dominierender Expositionspfade berücksichtigt werden.


Wie Eingreifrichtwerte sind auch abgeleitete Richtwerte auf bestimmte Maßnahmen bezogen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Zusammenhang zwischen Messgröße und Dosis gegebenenfalls maßnahmenspezifisch ist.



Abgeleitete Richtwerte können für eine Vielzahl von kontaminierten Umweltmaterialien, Expositionspfaden und Radionukliden ermittelt werden. Im Allgemeinen wird man sich auf abgeleitete Richtwerte beschränken, die für die Strahlenexposition größerer Bevölkerungsgruppen wesentlich sind und hinreichend einfach messtechnisch bestimmt werden können. Diese sind daher vorab als Entscheidungsgrundlagen bereitzustellen. Eine umfassende Sammlung von abgeleiteten Richtwerten ist im Maßnahmenkatalog (SSK 2009b) enthalten.



5 Entscheidungsfindung im Ereignisfall



Zur Beurteilung der Notwendigkeit von Schutz- und Gegenmaßnahmen werden grundsätzlich die in Abschnitt 4.4 beschriebenen Eingreifrichtwerte angewandt. Durch die aufgrund der Eingreifrichtwerte definierten Isodosislinien werden Gebiete festgelegt, in denen hinsichtlich der zugehörigen Schutz- und Gegenmaßnahmen Handlungsbedarf besteht.



Allerdings ist in der Dringlichkeitsphase (Vor-Freisetzungs- und Freisetzungsphase) davon auszugehen, dass aufgrund lückenhafter Kenntnisse die Dosisabschätzungen noch mit Unsicherheiten behaftet sind. Trotzdem ist von der Einsatzleitung – unter Einbeziehung von Informationen aus der Anlage und von sachkundigen Institutionen – auf dieser Basis die Frage der Anordnung vorsorglicher Maßnahmen und die davon betroffenen Gebiete zu erörtern.



Bei der Entscheidung über die Durchführung von Schutz- und Gegenmaßnahmen sollten die Stellungnahmen der Fachberater aller beteiligten Fachbehörden und Institutionen gehört und gegenseitig abgewogen werden, soweit das zeitlich möglich ist. Als Ergebnis dieses Entscheidungsfindungsprozesses erfolgt die zeitlich und räumlich spezifizierte Anordnung von Katastrophenschutz- bzw. Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen. Wurden bereits Maßnahmen ergriffen, ist in der Folge zu entscheiden, inwieweit zusätzliche Maßnahmen notwendig sind oder ob einzelne Maßnahmen aufgehoben werden können.



Gerade in der Frühphase einer drohenden, bereits erfolgenden oder bereits erfolgten schwerwiegenden Freisetzung radioaktiver Stoffe werden für die Bevölkerung veranlasste Schutzmaßnahmen vorsorglichen Charakter haben. Bei der Entscheidungsfindung fließen alle bis dahin verfügbaren Kenntnisse über den Ereignisablauf und die weiteren Prognosen zu Freisetzungen radioaktiver Stoffe und zur atmosphärischen Ausbreitung und Ablagerung in der Umgebung ein. Eine Erweiterung von Maßnahmen, deren Aufrechterhaltung, Modifikation oder Aufhebung wird mit zunehmendem Kenntnisstand über die sich entwickelnde oder bereits entstandene radiologische Lage erfolgen. Insbesondere Entscheidungen über Maßnahmen in der Nachunfallphase orientieren sich stark an dem Referenzwert der verbleibenden effektiven Dosis im ersten Jahr nach Eintritt des Unfalls. Wie in Abschnitt 4.3 bereits ausgeführt, kann nach deren auf Messungen gestützten Erfassung eine Anpassung des Referenzwerts der verbleibenden effektiven Dosis im ersten Jahr erfolgen, gegebenenfalls verbunden mit einem behördlich deklarierten Übergang von einer Notfall-Expositionssituation zu einer bestehenden Expositionssituation. Gerade bei größeren signifikant beaufschlagten Gebieten und damit einhergehenden Variationen der entstandenen Kontaminationssituation kann dieser Übergang räumliche und zeitliche Unterschiede aufweisen. Der geltende Referenzwert der verbleibenden Dosis und die Eingreifrichtwerte für frühe Maßnahmen sind die Bezugsgrößen bei der Entscheidung über eine Aufhebung oder Modifikation von vorab getroffenen Schutzmaßnahmen. Sowohl bei der Entscheidung in der Nachunfallphase über eine Aufhebung von Maßnahmen als auch bei einem von zuständigen Behörden veranlassten Übergang von einer Notfall- zu einer bestehenden Expositionssituation ist die Einbindung von Interessenvertretern und Betroffenen zu empfehlen.



5.1 Einflussfaktoren



Die Bewertung und das gegenseitige Abwägen aller relevanten Einflussfaktoren haben zum Ziel, diejenige Maßnahmenstrategie zu identifizieren, die unter den gegebenen Randbedingungen den bestmöglichen Schutz der Bevölkerung erzielen kann. Hierbei sind auch die Nachteile der vorgesehenen Maßnahmen zu berücksichtigen. Den Fachberatern kommt eine wesentliche Bedeutung zu, da sie aufgrund ihrer Sachkenntnisse qualitative und quantitative Angaben zu den relevanten Einflussfaktoren machen können. Die Bedeutung der Einflussfaktoren hängt wiederum von der Zeit nach der Freisetzung und vom betrachteten Ort ab; im Folgenden sind die wichtigsten Einflussfaktoren ohne Berücksichtigung ihrer Rangfolge zusammengestellt:



potenzielle Dosis eines Individuums:


Vermeidung schwerwiegender deterministischer Effekte sowie Verminderung der Wahrscheinlichkeit stochastischer Effekte


Wirksamkeit und die Durchführbarkeit von Maßnahmen:


Hierzu gehören insbesondere Aspekte der Machbarkeit (Verfügbarkeit von technischen Hilfsmitteln oder administrativ/personeller Unterstützung, Zustand von Verkehrswegen, Verkehrsbedingungen etc.), besondere infrastrukturelle Randbedingungen (Sondereinrichtungen wie Versorgungsunternehmen, Flugplätze, Seniorenheime, Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse etc.), Beginn und Zeitablauf von Maßnahmen sowie deren Schutzwirkung, Zeit bis zur Ankunft der radioaktiven Wolke und Höhe der vermeidbaren Körperdosen bzw. gesundheitlichen Schäden und Risiken. In jedem Fall sollte die Zusammenführung von Säuglingen, Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen mit einem Erziehungsberechtigten bzw. mit einer Bezugsperson angestrebt werden.


negative Auswirkungen von Maßnahmen:


Strahlenexposition der Hilfskräfte, Gefährdung der Bevölkerung (z.B. Verlegung von Schwerstkranken), gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Konsequenzen durch die Maßnahmen


subjektive Einflussfaktoren:


Situationsbedingte Einschätzungen und Beurteilungen des im Entscheidungsprozess involvierten Personenkreises, wie z.B. die Akzeptanz durch die Bevölkerung, die Gleichbehandlung der Bevölkerung und die Flexibilität hinsichtlich zukünftiger Entscheidungen sowie sozio-psychologische oder politische Aspekte


Einbeziehung von Unsicherheiten:


Ungenauigkeiten in der Abschätzung der meteorologischen oder radiologischen Situation (Wettergeschehen, Quellterm etc.)


Planungsvorgaben:


Abbildung von durch Isodosislinien bestimmten Flächen auf die Planungsgebiete des Notfallschutzes




Abb. 5.1:  Einflussfaktoren und Entscheidungsfindung als iterativer Prozess



5.2 Entscheidungsfindung



In der Praxis kann es notwendig sein, verschiedene Maßnahmenstrategien gegeneinander abzuwägen. Durch räumliche und zeitliche Variation des Ablaufs von Maßnahmen lässt sich allerdings sehr schnell eine Vielzahl von Handlungsalternativen erzeugen. Die eigentliche Entscheidungsfindung besteht dann darin, aus diesen Handlungsalternativen in einem im Allgemeinen iterativen Prozess den am besten geeigneten räumlichen und zeitlichen Vorgang des Ergreifens von Maßnahmen als Einzelaktionen oder in Kombination zu identifizieren (siehe Abbildung 5.1).



Der Vorgang des Bewertens und Abwägens erfolgt zum Teil intuitiv. Er ist darum empfindlich gegenüber der Verfügbarkeit an verlässlichen Informationen zu den einzelnen Einflussfaktoren und der Einschätzung der Entscheidungsträger über deren Relevanz. Inwieweit sie berücksichtigt werden, hängt andererseits auch davon ab, wie viel Zeit für die Entscheidungsfindung zur Verfügung steht und in welchem Umfang die entsprechende fachliche Unterstützung gegeben ist. So werden möglicherweise objektive Einflussfaktoren bei der Entscheidung über Katastrophenschutzmaßnahmen weniger beachtet werden, wenn eine sehr schnelle Entscheidung gefordert wird, wenn entsprechende fachliche Argumente nicht vorgetragen werden, oder wenn diese Aspekte bisher in Übungen nicht angesprochen worden sind.



5.3 Methodische Hilfsmittel



Aus wissenschaftlich-technischer Sicht steht eine Reihe von Hilfsmitteln zur Verfügung, die die Einsatzleitungen unter den geschilderten Randbedingungen unterstützen können. Hierzu gehören:



PC-basierte oder manuelle Methoden, bei denen mit Hilfe von Tabellen, Nomogrammen und Rechenvorschriften radiologische Größen abgeschätzt werden (Leitfaden für den Fachberater Strahlenschutz (SSK 2002); Maßnahmenkatalog (SSK 2007) hauptsächlich für Entscheidungen im Rahmen der Strahlenschutzvorsorge).


Rechnergestützte Entscheidungshilfesysteme erlauben, fundierte Wissensbasen auf unterschiedlichen Stufen der Informationsverarbeitung zu erstellen, die dann als Grundlage für Entscheidungen dienen können (KFÜ, RODOS, IMIS).


Entscheidungshilfesysteme für Maßnahmen des Katastrophenschutzes (KFÜ, IMIS, RODOS, ELAN) decken den Entfernungsbereich ab, für den Katastrophenschutzmaßnahmen erforderlich sein können. Diese Systeme haben im Allgemeinen Zugriff auf anlagenspezifische Emissions- und Immissionsdaten eines lokalen Überwachungsnetzes. Zusätzlich können Messdaten von speziellen Messeinrichtungen oder mobilen Einsatztrupps verarbeitet werden. Dabei ist unter Umständen die Zusammenarbeit bzw. die Abstimmung mit den Katastrophenschutzbehörden angrenzender Staaten vorzusehen.



Entscheidungshilfesysteme für Maßnahmen der Strahlenschutzvorsorge (IMIS, RODOS, ELAN) decken ein ganzes Land bis an seine Grenzen ab; in ihnen werden automatisch die gesamten Daten eines flächendeckenden Netzes von ODL-Messstationen ausgewertet und beurteilt. Zusätzlich gehen in die Systeme im Fall einer radioaktiven Kontamination Prognoserechnungen und weitere Daten über nuklidspezifische Kontaminationen von Wasser, Boden und Nahrungsmitteln ein, die von speziellen Messeinrichtungen oder mobilen Einsatztrupps stammen.



6 Andere radiologische Notfallsituationen nach erheblicher Freisetzung radioaktiver Stoffe



Unfälle bei Kernkraftwerken mit schwerwiegenden Freisetzungen entsprechend den Klassen 6 oder 7 der internationalen INES-Skala der IAEA nehmen im Hinblick auf die Größe von Gebieten, in denen Notfallschutzmaßnahmen erforderlich werden können, eine Sonderstellung ein. Bei anderen Unfällen in Deutschland betriebener Anlagen des Kernbrennstoffkreislaufs, sonstigen Unfällen mit radioaktiven Stoffen oder böswillig verursachten Freisetzungen durch Dispersion radioaktiver Stoffe sind um Größenordnungen geringere Freisetzungsmengen mit hoher radiologischer Relevanz zu erwarten. Demzufolge sind auch die räumlichen Bereiche, in denen durch solche Freisetzungsereignisse Personen erhöhte Gefahren durch Strahlenexposition drohen, erheblich kleiner. Bei solchen Freisetzungsereignissen kann man hohe Freisetzungsmengen radioaktiver Iodisotope, wie sie bei Unfällen mit Kernschmelze in einem Kernkraftwerk auftreten können, ausschließen. Dagegen können andere Radionuklide eine Freisetzung dominieren, z.B. falls radioaktive Quellen einer sogenannten USBV (unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung) beigeladen sind. Solche Vorrichtungen werden häufig auch als „Schmutzige Bombe“ (dirty bomb) bezeichnet.



Als frühe Maßnahmen des Notfallschutzes kommen bei den hier betrachteten Freisetzungsereignissen für stärker betroffene Gebiete ebenfalls die Maßnahmen



„Aufenthalt in Gebäuden“,


„Evakuierung“,


„Warnung vor dem Verzehr dort frisch geernteter Nahrungsmittel“ und


weitere Verhaltenshinweise


infrage.



In deutlich kleinräumigeren Bereichen als bei einem schweren Kernkraftwerksunfall können auch bei solchen Ereignissen Strahlenexpositionen insbesondere durch Inhalation und externe Strahlung von Personen der allgemeinen Bevölkerung und beim Einsatzpersonal zur Krisenbewältigung auftreten, bei denen schwere deterministische Effekte und stochastische Strahleneffekte nicht von vorneherein ausgeschlossen sind. Dabei können effektive Dosen ohne Schutzmaßnahmen und bei ungünstigen Expositionsbedingungen auch Werte von 100 mSv und darüber erreichen.



Anders als bei schweren Kernkraftwerksunfällen zu erwarten, bestehen bei einigen dieser Freisetzungsereignisse keine Vorwarnzeiten, die vor Freisetzungsbeginn eine Alarmierung der Katastrophenschutzbehörden und eine Warnung der Bevölkerung ermöglichen. Dem entsprechend können Schutzmaßnahmen dann nur nach einer in solchen Fällen oft schlagartigen Freisetzung und kurzfristigem Vorbeizug einer Schadstoffwolke ergriffen werden. Grundlage für Maßnahmen ist eine möglichst schnelle Erfassung der eingetretenen radiologischen Lage, die wesentlich durch die Höhe und räumliche Ausdehnung der entstandenen Kontaminationssituation in der Umgebung des Freisetzungsorts bestimmt ist. Auf dieser Grundlage und weiteren Erkenntnissen über das Freisetzungsereignis ist dann auch die Frage nach der möglichen Exposition von Personen zu klären, die sich zum Zeitpunkt des Freisetzungsereignisses in Ausbreitungsrichtung der Schadstoffwolke im Freien aufgehalten haben. Unter ungünstigen Umständen kann dabei eine erhebliche Inhalationsbelastung durch Einatmen radioaktiver Stäube mit lungengängigen Partikelgrößen und eine äußere Kontamination von Hautoberflächen und Kleidung durch trockene oder nasse Deposition resultieren. Die Betroffenen sollten daher möglichst bald erfasst und einer Kontaminationskontrolle und Dosisabschätzung zugeführt werden.



Übergeordnetes radiologisches Schutzziel im Hinblick auf die Begrenzung der Wahrscheinlichkeit von stochastischen Strahleneffekten (Auftreten von Krebs oder Leukämie) ist auch in diesen Fällen der Referenzwert der verbleibenden Dosis, bei deren Ermittlung die Wirkung von getroffenen Schutzmaßnahmen und gängige Verhaltensweisen der Bevölkerung einbezogen werden. Auch in diesem Fall sollen getroffene Schutzmaßnahmen mehr Nutzen als Schaden bewirken und unterliegen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Ebenfalls ändert sich nichts an der Argumentation bei der Festlegung eines Referenzwerts der verbleibenden Dosis von 100 mSv innerhalb der Folgezeit von einem Jahr nach einem so seltenen Ereignis über den Vergleich mit der natürlichen Strahlenexposition in Deutschland. Dabei ist hier noch einmal hervorzuheben, dass bei der Bewältigung der entstandenen radiologischen Lage durch Schutz- und Gegenmaßnahmen unverändert das ALARA-Prinzip gilt, welches eine Optimierung des Strahlenschutzes auch unterhalb des Referenzwerts der verbleibenden Dosis fordert. Es ist aber damit zu rechnen, dass nach Erfassung der entstandenen radiologischen Lage schon wegen der um Größenordnungen geringeren Freisetzung im Vergleich zu einem schweren Kernkraftwerksunfall und der entsprechend geringeren Ausdehnung höher betroffener und kontaminierter Gebiete zu einem niedrigeren Referenzwert der verbleibenden Dosis als Bewertungsmaßstab für Schutzmaßnahmen übergegangen werden kann. Das kann auch mit einer behördlichen Festlegung des Übergangs von einer Notfall-Expositionssituation zu einer bestehenden Expositionssituation einhergehen.



Die Entscheidung über die Maßnahmen „Aufenthalt in Gebäuden“ und „Evakuierung“ basiert auch in solchen Fällen auf dosisbezogenen Eingreifrichtwerten auf der Grundlage einer Prognose über die Höhe einer Strahlenexposition von Personen, die sich im betroffenen Gebiet aufhalten. Dabei gelten unverändert die in Tabelle 4.3 aufgeführten Werte von 10 mSv effektive Dosis für die Maßnahme „Aufenthalt in Gebäuden“ und von 100 mSv für „Evakuierung“. Sie beziehen sich auf die potenzielle Dosis, die eine Person bei unterstelltem Daueraufenthalt im Freien über einen Zeitraum von sieben Tagen erhalten könnte.



Wesentliche Ziele von Maßnahmen des radiologischen Notfallschutzes sind eine möglichst schnelle Gefahrenabwehr im Hinblick auf bereits eingetretene Expositionen von Personen und auf weiterhin zu befürchtende Strahlenexpositionen als Folge der entstandenen Kontaminationssituation. Als Grundlage für Entscheidungen über Schutzmaßnahmen werden verfügbare Informationen, die auf die freigesetzten radioaktiven Stoffe schließen lassen, Messungen zur Erfassung der entstandenen Kontaminationssituation und weitere zur Verfügung stehende Diagnosewerkzeuge kombiniert.



Für eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Erreichung dieser Schutzziele bestehen entsprechende Vorplanungen. Sie würden im Ereignisfall lageabhängig umgesetzt werden. Dazu zählen insbesondere:



Abgrenzung von Flächen, bei denen eine hohe Kontamination zu befürchten oder durch Messungen erwiesen ist, möglicherweise in Verbindung mit Einrichtung von Zugangsbeschränkungen und Erfassung und Kontaminationskontrolle von Personen, die solche Bereiche verlassen. Im Vordergrund stehen dabei Personen, die infolge des Ereignisses medizinische Versorgung benötigen, bei denen eine hohe äußere Kontamination festgestellt wird oder der Verdacht auf hohe Strahlenexposition besteht.


Bereitstellung von Infrastruktur und Personal für Messungen zur Erfassung der entstandenen radiologischen Lage und für die Organisation von Abhilfe- und Gegenmaßnahmen. Aufgaben sind dabei die Charakterisierung von Höhe und Nuklidzusammensetzung entstandener Kontaminationen, Messungen von Dosisleistung und Aktivitätskonzentration in der umgebenden Luft, diverse Dekontaminationsmaßnahmen (gegebenenfalls mit Unterstützung durch spezialisierte Fahrzeuge für Mess- und Dekontaminationsaufgaben), Transporte zur weiteren Versorgung betroffener Personen, etc.


Versorgung und Behandlung von Personen, die eine medizinische Erstversorgung benötigen oder aufgrund des Verdachts bzw. erwiesener erhöhter externer und interner Strahlenexposition einer strahlenmedizinischen Abklärung und Nachsorge bedürfen. Einrichtung von Notfallstationen, in denen der Bevölkerung eine Kontaminationskontrolle und eine medizinische Beratung angeboten wird.


Auf den Schutz des Einsatzpersonals bei diesen vielfältigen Aufgaben der Krisenbewältigung solcher radiologischer Ereignisse wird in Abschnitt 7.2 ausführlicher eingegangen.



7 Strahlenschutz der Einsatzkräfte



Einsatzkräfte im Sinne der Radiologischen Grundlagen sind Personen, die bei einem kerntechnischen Unfall oder bei Ereignissen mit einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen zur Bewältigung der Folgen des radiologischen Notfalls eingesetzt werden und hierbei einer Strahlung ausgesetzt sein können.



Dies können sowohl beruflich strahlenexponierte Personen (Personal von nach StrlSchV genehmigten Anlagen zum Umgang mit radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung) als auch nicht beruflich strahlenexponierte Personen sein. Die Einsatzkräfte umfassen insbesondere das Personal einer kerntechnischen Anlage oder weiteres fachkundiges und strahlenschutzüberwachtes Personal, Personen, die aufgrund ihrer allgemeinen beruflichen Qualifikation für bestimmte Aufgaben (z.B. Messungen, Transporte, Reparaturen, Bauarbeiten) eingesetzt werden sowie Sicherheits- und Rettungspersonal (z.B. Polizei, Feuerwehr, Sanitäter, Ärzte). Die Gruppen unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich ihrer Strahlenschutzkenntnisse und damit der Möglichkeiten, ihre eigene Gefährdung einzuschätzen.



Einsatzkräfte unterscheiden sich von der allgemeinen Bevölkerung dadurch, dass ihre zusätzliche Strahlenexposition aus der Bewältigung der Folgen des radiologischen Notfalls resultiert. Die Strahlenexposition der Bevölkerung kann durch Maßnahmen des Einsatzpersonals vermieden oder vermindert werden. Daher müssen sich die Strahlenschutzgrundsätze für die Bevölkerung von denen der Einsatzkräfte unterscheiden.



7.1
Aufgaben der Einsatzkräfte


Die von den Einsatzkräften durchzuführenden Aufgaben hängen von der vorliegenden Unfallphase bzw. von der jeweiligen Ereignissituation ab. Die Rechtfertigung der zusätzlichen Strahlenexposition von Einsatzkräften wird durch die Wichtigkeit ihrer Aufgaben bestimmt.



Die Einsatzaufgaben können eingeteilt werden in:



lebensrettende Maßnahmen,


Maßnahmen zur Abwehr einer Gefahr für die Bevölkerung (Verhinderung einer gefährlichen Freisetzung),


Maßnahmen zur Abwehr einer Gefahr für Einzelpersonen oder zur Verhinderung einer wesentlichen Schadensausweitung,


frühe Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung (Personal zur Evakuierungsunterstützung, Erfassung und Milderung der radiologischen Lage etc.),


Messungen zur Entscheidung über lebensrettende und längerfristige Maßnahmen,


Einsätze zum Schutz von Infrastruktur und Sachwerten,


Einsätze beim Betrieb einer Notfallstation und


allgemeine Aufgaben.


Ehe die sich daraus ergebenden Folgerungen beschrieben werden, sollen die in der Bundesrepublik bereits vorhandenen Bestimmungen kurz dargestellt werden. In § 59 StrlSchV „Strahlenexposition bei Personengefährdung und Hilfeleistung“ ist festgelegt (BMU 2001):



(1) Bei Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für Personen ist anzustreben, dass eine effektive Dosis von mehr als 100 mSv nur einmal im Kalenderjahr und eine effektive Dosis von mehr als 250 mSv nur einmal im Leben auftritt.



(2) Die Rettungsmaßnahmen dürfen nur von Freiwilligen über 18 Jahren ausgeführt werden, die zuvor über die Gefahren dieser Maßnahmen unterrichtet worden sind.



Für Einsätze von Feuerwehr und Polizei wurden von den Innenministern des Bundes und der Länder die Feuerwehr-Dienstvorschrift 500 „Einheiten im ABC-Einsatz“ (AFKzV 2012) sowie der Polizei-Leitfaden 450 „Gefahren durch chemische, radioaktive und biologische Stoffe“ (POL 2006) erlassen. Darin werden zusätzlich zu den Festlegungen aus § 59 StrlSchV Dosisrichtwerte für Einsätze zum Schutz von Sachwerten von 15 mSv pro Person und Einsatz (Feuerwehr) bzw. 6 mSv pro Person und Jahr (Polizei) festgelegt. § 59 macht keine Unterschiede zwischen beruflich strahlenexponiertem und nicht beruflich strahlenexponiertem Einsatzpersonal.



Diesen Vorschriften und den darin festgelegten Richtwerten liegen Ereignisse wie z.B. Unfälle in Radionuklidlabors, Transportunfälle u. Ä. zugrunde. Bei diesen Ereignissen ist eine Überschreitung der genannten Richtwerte für die Einsatzkräfte, die in der Regel keine beruflich strahlenexponierten Personen sind (ein Großteil der Feuerwehrleute und der Polizeikräfte), im Allgemeinen nicht gerechtfertigt. Bei einem kerntechnischen Unfall ist ebenfalls anzustreben, dass die in den oben angegebenen Vorschriften genannten Richtwerte eingehalten werden. Sollten diese Werte dennoch in Einzelfällen überschritten werden, so ist dies nachträglich zu begründen und gemeinsam mit der Begründung aufzuzeichnen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Eingreifrichtwerte für die Bevölkerung keine Begrenzung für die Strahlenexposition der Einsatzkräfte bei einem kerntechnischen Unfall darstellen.



7.1.1
Lebensrettende Maßnahmen


Die genannten Vorschriften sehen höhere Dosisrichtwerte nur im Einzelfall beim Einsatz zur direkten und indirekten Rettung von Menschenleben vor und liegen unterhalb der Schwelle deterministischer Effekte. Das mit der Strahlenexposition verbundene Risiko einer Spätschädigung (stochastische Effekte) in diesem Dosisbereich übersteigt nicht das sonst übliche Ausmaß gesundheitlicher Risiken bei Unfall- und Katastropheneinsätzen.



Die SSK empfiehlt in Band 4 ihrer Veröffentlichungen „Medizinische Maßnahmen bei Kernkraftwerksunfällen“ (SSK 2006b), dass auch bei lebensrettenden Einsätzen die Organäquivalentdosis 1 Sv nicht überschritten werden sollte. Die Euratom-Richtlinie zum Strahlenschutz (Euratom 2014) lässt unter diesen Bedingungen für Einsatzpersonal einen Referenzwert der effektiven Dosis durch externe Strahlung oberhalb von 100 mSv jedoch nicht höher als 500 mSv zu. Bei einem kerntechnischen Unfall muss daher, genauso wie bei anderen radiologischen Notfallsituationen, durch administrative Maßnahmen (Einsatzpläne, Dienstvorschriften, Einsatzleitfäden u. Ä.) sichergestellt werden, dass Dosisrichtwerte für das Einsatzpersonal die Rettung von Menschenleben nicht unmöglich machen.



Beim Einsatz sind situationsangemessene persönliche Schutzmittel zu benutzen. Die Strahlenexposition ist zu überwachen und aufzuzeichnen.



7.1.2 Maßnahmen zur Abwehr einer Gefahr für die Bevölkerung sowie zur Verhinderung einer Schadensausweitung bei Freisetzungsereignissen in einer kerntechnischen Anlage



Die durchzuführenden Aufgaben können charakterisiert werden durch:



unaufschiebbare Maßnahmen zur Wiederherstellung der Beherrschbarkeit einer außer Kontrolle geratenen Strahlenquelle und


die Durchführung von Maßnahmen zur Verhinderung oder Begrenzung von erheblichen Radioaktivitätsfreisetzungen in die Umgebung.


Erheblich sind beispielsweise Freisetzungen, die zu akuten (deterministischen) Strahleneffekten in der Bevölkerung führen können oder solche, die die Evakuierung einer sehr großen Anzahl von Personen notwendig machen. Die Aufgaben können z.B. Schalthandlungen und dringende Reparaturarbeiten zur Wiedergewinnung der Kühlbarkeit sowie Abdichtungs- und Löscharbeiten umfassen.



Man kann davon ausgehen, dass die genannten Aufgaben in der Regel vom Personal der betroffenen kerntechnischen Anlage wahrgenommen werden. Diese sind im Strahlenschutz und im Wissen um die Anwendung von Strahlenschutzmaßnahmen (zeitliche Beschränkung der Exposition, Abschirmung, Kontaminations- und Inkorporationsschutz) geschult. Zu dem damit betrauten Personenkreis zählen auch Mitglieder der zur kerntechnischen Anlage gehörenden Werkfeuerwehr.



Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Angehörige der öffentlichen Feuerwehren, der Polizei und der medizinischen Rettungsdienste an einem Einsatz zur Abwehr einer Gefahr für die Bevölkerung sowie zur Verhinderung einer Schadensausweitung mitwirken. Daher sind Angehörige dieser Gruppen, die für Einsätze in solchen radiologischen Notfallsituationen in Betracht kommen, im Rahmen ihrer Ausbildung entsprechend zu schulen. Einsatzpersonal ohne Strahlenschutzkenntnisse darf nur durch Einsatzpersonal mit entsprechenden Kenntnissen angeleitet werden, daher ist es erforderlich, dass bei Bewältigung einer solchen radiologischen Notfallsituation Personal mit Strahlenschutzkenntnissen unterstützend im Einsatz ist. Unaufschiebbare Maßnahmen zur Wiederherstellung der Beherrschbarkeit einer außer Kontrolle geratenen Strahlenquelle können nur von fachkundigem Personal selbst durchgeführt und nicht an unkundiges Einsatzpersonal delegiert werden.



Maßnahmen zur Verhinderung einer erheblichen Freisetzung sind in der Regel gerechtfertigt. Es ist aber in jedem Fall sicherzustellen, dass die Einsatzkräfte keine Dosen oberhalb der Schwellenwerte für akute Wirkungen (siehe Kapitel 3) erhalten können.



Im Rahmen der Notfallschutzplanung muss sichergestellt werden, dass die bei solchen Einsätzen erforderlichen Schutzmittel (Atemschutz, Kontaminationsschutz, Iodtabletten) vorhanden sind.



Die Strahlenexposition ist zu überwachen und aufzuzeichnen. Die Exposition und die sich daraus ergebenden möglichen Gesundheitsfolgen sind den Einsatzkräften spätestens nach Beendigung des Einsatzes mitzuteilen und zu erläutern.



7.1.3 Frühe Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung



Typischerweise handelt es sich hierbei um verkehrslenkende Maßnahmen oder Personentransport, z.B. im Rahmen einer „Evakuierung“. Die Durchführung solcher Aufgaben obliegt Angehörigen der Polizei, der Feuerwehr, der Sanitäts- und Betreuungsdienste und zusätzlich herangezogenen Hilfskräften (z.B. Fahrer von Transportmitteln).



Solche Einsätze sind im Allgemeinen gerechtfertigt. Es ist sicherzustellen, dass eine effektive Dosis von 100 mSv nicht überschritten wird.



Im Rahmen der Notfallschutzplanung, insbesondere für eine kerntechnische Anlage, ist für den abzusehenden Personenkreis eine Grundeinweisung in die von ionisierender Strahlung ausgehenden Risiken, in Strahlenschutzpraktiken (zeitliche Limitierung der Exposition, Kontaminationsschutz u. Ä.) und im Gebrauch von einfachen Messgeräten (Dosimeter, Dosisleistungsmessgeräte, Dosiswarner) vorzunehmen. Die Einsatzleitung trägt dafür Sorge, dass Hilfspersonal keiner Strahlenexposition ausgesetzt ist, die nicht gerechtfertigt ist.



Die Strahlenexposition der Einsatzkräfte ist zu überwachen und aufzuzeichnen, wobei vereinfachte Verfahren zulässig sind (z.B. Messung der Körperdosis mit Dosimeter nur bei einem Mitglied einer zusammengehörigen Gruppe, Abschätzung auf der Basis der gemessenen Ortsdosisleistungen und der zugehörigen Expositionszeiten). Nach dem Einsatz sind die gemessenen bzw. abgeschätzten Körperdosen und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken den Betroffenen bekannt zu geben und zu erläutern.



Bei der Planung ist auch das mögliche Erfordernis einer auf radiologische Notfallsituationen spezialisierten psychosozialen Notfallversorgung für Bevölkerung und Einsatzpersonal zu beachten.



7.1.4 Entscheidung über längerfristige Maßnahmen zum Schutz von Infrastruktur und Sachwerten



Sobald die betroffene kerntechnische Anlage bzw. die radiologische Notfallsituation wieder unter Kontrolle gebracht ist, steht für Aufgaben wie



Dekontamination der Anlage und der Umgebung,


Reparaturen der Anlage und der Gebäude und


Abfallbehandlung und -lagerung


in der Regel ausreichend Zeit zur Verfügung. In einer solchen Situation ist die Strahlenexposition der mit solchen Arbeiten betrauten Einsatzkräfte steuerbar. Diese Einsatzkräfte sind als beruflich strahlenexponierte Personen unter Anwendung der dafür gültigen Vorschriften der StrlSchV einzustufen. Die Einstufung als beruflich strahlenexponierte Personen kann unterbleiben, wenn ihre Jahresdosis sicher unter dem Grenzwert von 1 mSv/pro Jahr für die allgemeine Bevölkerung gehalten werden kann.



7.1.5 Allgemeine Aufgaben



Bei einem kerntechnischen Unfall ist es zur Ermittlung der radiologischen Lage erforderlich, sowohl in der betroffenen kerntechnischen Anlage als auch in der Umgebung Messungen vorzunehmen. Das kann zu einer Strahlenexposition des Personals der jeweiligen Messdienste führen.



Die Rechtfertigung dieser Strahlenexposition muss sich grundsätzlich daran orientieren, wofür die Ergebnisse der Messung benötigt werden. So darf beispielsweise die Strahlenexposition von Einzelpersonen bei Messungen, die zur Vorbereitung lebensrettender Maßnahmen notwendig sind, höher ausfallen als bei Messungen zur Entscheidung über längerfristige Abhilfemaßnahmen oder zum Schutz von Sachwerten. Nach einem Kernkraftwerksunfall ist die Exposition bei Einsätzen im Wesentlichen durch die Dosisleistung externer Strahlung und die Zeitdauer bestimmt. Die Dosisleistung durch Direktstrahlung und die erhaltene Dosis sind durch einfache Messungen, z.B. durch handgeführte Dosisleistungs- und Dosismessgeräte bestimmbar. Dadurch ist eine Kontrolle und Begrenzung der externen Dosis von Einsatzpersonal mit geringem Aufwand und zuverlässig möglich. Zur Reduzierung einer möglichen internen Exposition durch Inhalation luftgetragener Radionuklide können darüber hinaus einfache partikelfilternde Halbmasken der Filterklasse P2 (z.B. vom Typ FFP2) vom Einsatzpersonal getragen werden. Diese belasten die Träger wenig und reduzieren eine Inkorporation durch Inhalation um mehr als einen Faktor 10. Nach Vorbeizug der radioaktiven Wolke verbleibt als Quelle für luftgetragene Aktivität die Resuspension von kontaminierten Oberflächen. Deren Beitrag zur Strahlenexposition nimmt mit der Zeit sehr schnell stark ab und bewegt sich im Vergleich zur Dosis durch Direktstrahlung auf niedrigem Niveau.



Bereits bei der Planung von Messaufgaben sind Überlegungen zur Optimierung einer möglichen Strahlenexposition anzustellen. Es können beispielsweise ortsfeste Messstationen sowie im Bedarfsfall absetzbare Sonden mit Datenfernübertragung, ferngesteuerte Messfahrzeuge, Hubschrauber/Flugzeuge mit Messeinrichtungen (Aerometrie) zum Einsatz kommen. Für Fälle, in denen auf den Einsatz von Messpersonal in hoch kontaminierten Gebieten nicht verzichtet werden kann, sind Einsatzstrategien vorzubereiten, die helfen, die radiologische Lage mit möglichst geringer Strahlenexposition zu erfassen (Einsatz in durch Luftfilterung und Abschirmung besonders geschützten Messfahrzeugen, Ausrüstung mit Dosimetern und Dosiswarngeräten zur Selbstüberwachung, zeitliche Begrenzung des Einsatzes, lageabhängige Planung von Messfahrten, Festlegung von Umkehrdosen).



7.2 Einsatzbedingungen von Personal zur Bewältigung von anderen Ereignissen mit Freisetzung radioaktiver Stoffe



In diesem Abschnitt sollen Hinweise zu den Einsatzbedingungen von Personal bei anderen Ereignissen, die mit erheblicher Freisetzung verbunden sind, aber nicht aus einem Kernkraftwerksunfall stammen, gegeben werden. Bei Ereignissen, die zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre geführt haben, wird Personal meist erst nach erfolgter Kontamination von Boden und anderen Oberflächen für die Krisenbewältigung zum Einsatz kommen. Durch einen Unfall oder auch böswillige Handlung (z.B. schmutzige Bombe) sind radioaktive Stoffe in kurzer Zeit in die umgebende Luft freigesetzt worden. Soweit freigesetzte Partikel bei nicht zu hoher, partikelgrößenabhängiger Sinkgeschwindigkeit länger luftgetragen bleiben, werden sie durch atmosphärische Ausbreitung in Richtung des vorherrschenden Windes verfrachtet.



In der unmittelbaren Umgebung des Freisetzungsorts können, z.B. bei Verlust der Abschirmung einer radioaktiven Quelle oder durch dort verstreute Bruchstücke, lokal hohe Dosisleistungen durch Gamma-Strahlung (in Ausnahmefällen auch durch Beta-Strahlung) vorliegen, die dann spezielle Vorgehensweisen und Schutzmaßnahmen für das Einsatzpersonal erfordern. In solchen Bereichen sollten nur entsprechend ausgebildete und mit Strahlenschutzpraktiken vertraute Personen eingesetzt werden.



In Ausbreitungsrichtung einer bei dem Ereignis freigesetzten Wolke luftgetragener radioaktiver Stoffe führen Ablagerungsprozesse zu einer mit der Entfernung abnehmenden Kontamination von Boden und anderen Oberflächen, die auch zu einer Exposition von Personen führen können. Bei gamma-strahlenden Radionukliden und Betastrahlern mit hoher Zerfallsenergie liefert dann externe Strahlung den dominanten Beitrag zur Exposition. Soweit deponierte radioaktive Partikel durch Resuspension wieder luftgetragen werden und aerodynamische Durchmesser im lungengängigen Bereich (< 10 μm) haben, können sie über Einatmen zu einer internen Strahlenexposition beitragen. Wirksame Resuspensionsprozesse resultieren aus Einwirkungen auf kontaminierte Oberflächen wie Wind, sich bewegende Personen und Fahrzeuge. Bei Alpha-Strahlern entfällt eine Exposition durch Direktstrahlung (Ausnahme Hautkontamination und sehr hohe Zerfallsenergie). Wegen der hohen biologischen Wirksamkeit von Alpha-Strahlung dominiert in dem eher unwahrscheinlichen Fall einer größeren Freisetzung alpha-strahlender Radionuklide die interne Exposition nach Inhalation.



Für eine Strahlenexposition bei Einsatztätigkeiten nach eingetretener Kontamination mit partikelgetragenen radioaktiven Stoffen sind unter solchen Bedingungen die externe Strahlung von deponierten Radionukliden sowie das Einatmen von erneut luftgetragenen Radionukliden nach Resuspension maßgeblich. Dabei zeigen experimentelle Untersuchungen zu Resuspensionsvorgängen (Koch et al. 2012, Koch et al. 2013), dass trotz anhaltender Windeinwirkung bzw. wiederholter Einwirkung durch sich bewegende Personen oder Fahrzeuge auch in der Frühphase nach einer Kontamination die Resuspension schnell abnimmt. Damit geht ihr - im Allgemeinen – geringer Beitrag zu einer Exposition weiter zurück. Für in höher kontaminierten Bereichen eingesetztes Personal ist als zusätzliche Schutzmaßnahme das Tragen einer einfachen und wenig belastenden partikelfilternden Halbmaske der Filterklasse P2 (FFP2) zu empfehlen.



Analysen solcher Ereignisse haben ergeben, dass schon Kontaminationsniveaus um 106 Bq/m2 einen eher hohen Wert darstellen. In ungünstig gelagerten Fällen könnten auch Werte von 107 Bq/m2 oder – noch unwahrscheinlicher – von 108 Bq/m2 in nahen Entfernungen von einigen 100 m in Ausbreitungsrichtung vorliegen. Beispielsweise wäre bei einer ausgedehnten Kontamination von 106 Bq/m2 mit dem relativ harten Gamma-Strahler Cs-137 in der Referenzhöhe von 1 m über dem Boden, die Dosisleistung 2 μSv/h und erreichte bei wenig wahrscheinlichen 108 Bq/m2 dann 200 μSv/h. Das in so hoch kontaminierten Bereichen eingesetzte Personal muss bei den notwendigen Tätigkeiten mit Dosis- und Dosisleistungsmessgeräten ausgerüstet und/oder von im Strahlenschutz erfahrenem Fachpersonal begleitet und betreut werden. Die Höhe der erhaltenen effektiven Dosis durch externe Strahlung kann bei bekannter Dosisleistung so gesteuert werden, dass auch bei Einsätzen ohne weitere Schutzmaßnahmen die effektiven Dosen auf Werte unter 1 mSv oder wenige mSv begrenzt bleiben. Fachkundiges Personal sollte wenig informierte und dadurch oft in Bezug auf radioaktive Stoffe und ionisierende Strahlung verunsicherte Einsatzkräfte entsprechend aufklären, unnötige Ängste mildern und eine effiziente Umsetzung der vielfältigen Schutz- und Hilfsmaßnahmen unterstützen.



8 Strahlenschutz besonderer Berufsgruppen



Falls ein Ereignis mit Freisetzung radioaktiver Stoffe zu einer Kontamination der Umgebung geführt hat, werden viele dort lebende (gegebenenfalls zurückgekehrte) Personen einer zwar niedrigen, aber gegenüber der Situation vor dem Unfall erhöhten Strahlung ausgesetzt sein. Die Erhöhung der Umgebungsstrahlung wird allerdings nicht gleichmäßig sein, vielmehr werden sich örtlich, aber auch tätigkeitsspezifisch Spitzen ergeben. Dies könnte beispielsweise bei folgenden Tätigkeiten der Fall sein:



Klärschlammbearbeitung,


Umgang mit industriellen Filteranlagen (Aufenthalt in der Nähe, Auswechseln, Reinigen, Abfallbehandlung) und


Dekontamination von Flächen und Umgang mit dabei anfallenden radioaktiven Materialien.


Das Intensiv-Messprogramm zur Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt (BMU 2006) kann Hinweise darauf liefern, ob es bei solchen Tätigkeiten zu erhöhten Strahlenexpositionen kommen kann, die gegebenenfalls spezielle Überwachungsprogramme erfordern und die vielleicht auch Strahlenschutzmaßnahmen bei den dort Beschäftigten notwendig machen können.





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Strahlenschutzkommission (SSK). Der Strahlenunfall – Ein Leitfaden für Erstmaßnahmen. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 210. Sitzung der SSK am 28./29. September 2006, Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission, Band 32 (2. überarbeitete und aktualisierte Auflage), H. Hoffmann Verlag, Berlin, 2008


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Strahlenschutzkommission (SSK). Medizinische Maßnahmen bei Kernkraftwerksunfällen. Überarbeitung von Band 4 der Reihe „Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission“, Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 210. Sitzung der SSK am 28./29. September 2006, Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission, Band 4 (3., überarbeitete Auflage), H. Hoffmann GmbH Verlag, Berlin, 2007


SSK 2007

Strahlenschutzkommission (SSK). Übersicht über Maßnahmen zur Verringerung der Strahlenexposition nach Ereignissen mit nicht unerheblichen radiologischen Auswirkungen, Überarbeitung des Maßnahmenkatalogs Band 1 und 2. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 220. Sitzung der SSK am 05./06. Dezember 2007, Heft 60, Berichte der Strahlenschutzkommission, H. Hoffmann GmbH Verlag, Berlin, 2010


SSK 2008a

Strahlenschutzkommission (SSK): Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, redaktionelle Überarbeitung zustimmend zur Kenntnis genommen in der 223. Sitzung der SSK am 13. Mai 2008, Berichte der Strahlenschutzkommission, Heft 61, Berlin: H. Hoffmann GmbH Verlag, 2009


SSK 2008b

Strahlenschutzkommission (SSK). Bewertung der epidemiologischen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie) – Wissenschaftliche Begründung. Wissenschaftliche Begründung zur Stellungnahme der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 232. Sitzung der SSK am 16. Dezember 2008, Berichte der Strahlenschutzkommission, Heft 58, H. Hoffmann GmbH Verlag, Berlin, 2009


SSK 2011

Verwendung von Jodtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei einem kerntechnischen Unfall. Empfehlung der Strahlenschutzkommission, verabschiedet in der 247. Sitzung der SSK am 24./25. Februar 2011 (BAnz. Nr. 135 vom 7. September 2011)


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Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen



ALARA

As Low As Reasonably Achievable

EAL

Emergency Action Levels

ELAN

Elektronischen Lagedarstellung für den Notfallschutz

EG

Europäische Gemeinschaft (bis 2009)

EU

Europäische Union

EURATOM

Europäische Atomgemeinschaft

IAEA

International Atomic Energy Agency

ICRP

International Commission on Radiological Protection

IMIS

Integriertes Mess- und Informationssystem

INES

International Nuclear Event Scale

KFÜ

Kernreaktorfernüberwachung

ODL

Ortsdosisleistung

OIL

Operational Intervention Levels

RODOS/RESY

real-time on-line decision support/rechnergestütztes Entscheidungshilfe-System





Anhang



Verwendung von Jodtabletten
zur Jodblockade der Schilddrüse bei einem kerntechnischen Unfall



Empfehlung der Strahlenschutzkommission



Verabschiedet in der 247. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 24./25. Februar 2011





Inhaltsverzeichnis



A 1 

Empfehlung und Begründung

A 2 

Merkblatt für Ärzte und Apotheker

A 3 

Merkblatt für die Bevölkerung





A 1 Empfehlung und Begründung



Vor dem Hintergrund eines neuen Informationskonzepts über die Katastrophenschutzmaßnahme „Jodblockade“ hat das BMU die SSK um Überprüfung der zuletzt 2004 veröffentlichten Jodmerkblätter gebeten.



Die Überprüfung ergab insgesamt nur geringfügigen Bedarf an Änderungen sowohl im Merkblatt für Ärzte und Apotheker als auch im Merkblatt für die Bevölkerung.



Deutschland galt in der Vergangenheit als Jodmangelgebiet. Diese Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch deutlich verbessert, z.B. durch die Verwendung von jodiertem Speisesalz, wie man an erhöhten Jodausscheidungen und der geringeren Zahl von Autonomien ersehen kann. Die Verteilung des Jodmangels ist nicht mehr regional, sondern durch die Ernährungsgewohnheiten bestimmt. Die Schilddrüsenerkrankungshäufigkeit hat sich zu höheren Altersklassen verschoben. Die SSK empfiehlt, Hinweise auf den Jodmangel aus den Jodmerkblättern zu streichen.



Die bisherige Empfehlung besagt, Personen über 45 Jahren keine Jodtabletten zur Jodblockade zu verabreichen, da dann das Risiko von Nebenwirkungen höher ist als das Risiko, später an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Die SSK empfiehlt, an dieser Altersgrenze bis auf Weiteres festzuhalten, weil sich der Schilddrüsenstatus gerade bei älteren Personen noch nicht so stark verändert hat wie bei jüngeren Personen.



Die SSK empfiehlt weiter den Personen, die wegen einer Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyreose) in Behandlung waren oder sind, Jodtabletten erst nach Rücksprache mit ihrem behandelnden Arzt einzunehmen.



Ein bisher erfolgter Hinweis auf den gelegentlich anzutreffenden Jodkropf bei Neugeborenen kann entfallen, da er für die Jodblockade nicht relevant ist.



In den Jodmerkblättern 2004 wird zur Häufigkeit der Tabletteneinnahme ausgeführt, dass im Regelfall eine einmalige Tabletteneinnahme ausreichend ist. Im Ausnahmefall würden die zuständigen Behörden eine weitere Tabletteneinnahme empfehlen. Die Voraussetzungen für eine Zweitgabe werden in den aktualisierten Jodmerkblättern näher erläutert.



Wenn eine länger anhaltende Jodfreisetzung (mehrere Tage bis Wochen) vorliegt und die Blockade der Schilddrüse durch die einmalige Gabe an inaktivem Jod nicht mehr gewährleistet ist, kann durch die Einnahme von weiterem inaktivem Jod, welches im Verhältnis zum radioaktiven Jod mengenmäßig im Körper dominiert, die Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse begrenzt werden. Für den Fall, dass die Einnahme von Jodtabletten auf Grund einer akut drohenden Jodfreisetzung bereits empfohlen wurde, die tatsächliche Jodfreisetzung aber erst sehr viel später (Tage später) erfolgt, könnte ebenfalls eine weitere Einnahme von Jodtabletten empfohlen werden.



Da die Abnahme von Jod in der Schilddrüse vom Schilddrüsenstatus und damit von der Jodversorgung abhängig ist und zudem individuell breit gestreut ist, können einfache Regeln für eine Zweitgabe nicht aufgestellt werden. Die für die Entscheidung zur Empfehlung der Jodtabletteneinnahme zuständigen Behörden sollten den Rat von Ärzten einholen, die spezielle Kenntnisse zu diesem Thema haben. Den zuständigen Behörden wird empfohlen, die Kontaktdaten solcher Ärzte in ihre Pläne aufzunehmen.



Den für die Planung der Jodblockade zuständigen Behörden wird empfohlen, die Ärzte und Apotheker in potenziellen Verteilungsgebieten vorab mit den Jodmerkblättern und Informationen über die Jodblockade zu versorgen, z.B. durch Hinweise auf die Internetseite www.jodblockade.de. Die Ärzte könnten dann mit ihren Patienten vorab die individuelle Vorgehensweise für den Fall, dass die Jodblockade notwendig werden könnte, besprechen. Es wird weiterhin empfohlen, das Thema Jodblockade im Rahmen der ärztlichen Fortbildung zu behandeln.



A 2 Merkblatt für Ärzte und Apotheker



Vorbemerkungen:



Die für den Bevölkerungsschutz zuständigen Behörden bevorraten Kaliumjodidtabletten (im folgenden Jodtabletten genannt), um diese bei Bedarf an die Bevölkerung auszugeben, sofern sie nicht schon unter bestimmten Voraussetzungen vorher an die Haushalte verteilt wurden. Eine Tablette enthält 65 mg Kaliumjodid (KI) entsprechend 50 mg Jodid. Das vorliegende Merkblatt soll den Arzt über die wesentlichen, mit einer Jodblockade der Schilddrüse zusammenhängenden Fragen informieren. Auf das Merkblatt für die Bevölkerung wird in diesem Zusammenhang verwiesen.



Warum eine Blockade der Schilddrüse?



Zu den Spaltprodukten, die beim Betrieb von Kernreaktoren entstehen, gehören die verschiedenen radioaktiven Isotope des Jods. Sie nehmen wegen der biologischen Besonderheit des Jods, nämlich seinem Einbau in die Schilddrüsenhormone, eine Sonderstellung ein. Da bei den in Kernreaktoren vorhandenen Temperaturen das Jod in gasförmigem Zustand vorliegt, muss bei Unfällen unter ungünstigen Umständen mit der Abgabe von radioaktivem Jod in die Luft gerechnet werden. Dieses radioaktive Jod wird sich zum größten Teil auf dem Boden und auf Pflanzen niederschlagen. Von dort kann es mit den Nahrungsmitteln, insbesondere mit der Milch, in den Menschen gelangen. Bei einem kerntechnischen Unfall kann radioaktives Jod auch mit der Atemluft aufgenommen und in den Lungen resorbiert werden.



Nach der Resorption verhält sich das radioaktive Jod genauso wie stabiles Jod. Es kommt zu einer Verteilung im Extravasalraum, von dort zu einer vorübergehenden Anreicherung in den Speicheldrüsen und in der Magenschleimhaut und insbesondere zu einer längeren Speicherung in der Schilddrüse. Das Ausmaß der Speicherung in der Schilddrüse hängt von ihrem Funktionszustand ab, beim Euthyreoten insbesondere vom Jodangebot in der Nahrung. Je geringer das Jodangebot in der Nahrung ist, desto höher ist die prozentuale Speicherung in der Schilddrüse.



Ziel der Jodblockade ist die Verhinderung von strahleninduzierten Schilddrüsenkarzinomen. Kinder sind besonders gefährdet.



Wann ist die Jodblockade angezeigt?



Eine Jodblockade der Schilddrüse ist nur dann zu erwägen, wenn nach der Lagebeurteilung tatsächlich eine erhebliche Freisetzung radioaktiven Jods befürchtet werden muss. Hohe Schilddrüsendosen durch die Inkorporation von radioaktivem Jod können insbesondere bei Kindern, die jünger als vier Jahre alt sind, auftreten. Deshalb sollte der Schutz von Kindern und Schwangeren bei der Durchführung der Jodblockade im Vordergrund stehen.



Eine Freisetzung von radioaktivem Jod in einem Ausmaß, das eine Jodblockade für die Bevölkerung als zweckmäßig erscheinen lässt, wird in der Regel rechtzeitig erkannt. Daher kann mit einer Vorwarnzeit von Stunden bis Tagen gerechnet werden, in der die Behörde auf Grund ihrer Informationen und der Beurteilung der Lage die erforderlichen Anweisungen geben kann.



Es ist erforderlich, die Bevölkerung darauf hinzuweisen, dass es nutzlos und sogar schädlich ist, wenn sie eine Jodblockade aus eigener Initiative, d. h. ohne Aufforderung durch die zuständigen Behörden, durchführen würde. Sie würde sich nur unnötig dem Risiko von Nebenwirkungen aussetzen.



Ist eine Blockade der Schilddrüse bei Schwangeren und Stillenden zulässig?



Auch in der Schwangerschaft soll, unabhängig vom Alter der Schwangeren, die empfohlene Jodblockade durchgeführt werden.



Feten nehmen etwa ab der 12. Schwangerschaftswoche Jod in die Schilddrüse auf. Ab dem 6. bis 9. Monat ist die Jodspeicherung in der fetalen Schilddrüse erheblich. Damit ist auch die Notwendigkeit einer Blockade der Schilddrüse des älteren Feten gegeben, die über die Jodgabe an die Schwangere ohne Erfordernis einer besonderen Dosisanpassung erfolgt.



Jod wird während der Stillzeit in individuell unterschiedlicher Menge in die Muttermilch abgegeben. Da hierdurch eine ausreichende Jodblockade beim gestillten Kind nicht gewährleistet ist, sollen auch Neugeborene bzw. Säuglinge Jodtabletten (siehe Dosierungsschema) erhalten.



Frauen, die während der Schwangerschaft und Stillzeit mit hohen Dosen Jod behandelt worden sind, sollten darauf hingewiesen werden, dies dem Geburtshelfer und dem Kinderarzt mitzuteilen, damit diese beim Neugeborenen besonders auf mögliche Schilddrüsenfunktionsstörungen achten.



Wie wird eine Blockade der Schilddrüse gegenüber radioaktivem Jod durchgeführt?



Die Speicherung von radioaktivem Jod in der Schilddrüse kann dadurch verhindert werden, dass vor Aufnahme des radioaktiven Jods eine größere Menge von stabilem (nicht radioaktivem) Jodid in hohen Einzeldosen (altersabhängig zwischen 12,5 und 100 mg) verabreicht wird. Durch dieses erhöhte Angebot an stabilem Jod wird wegen der begrenzten Aufnahmefähigkeit der Schilddrüse nur ein kleiner Bruchteil des resorbierten radioaktiven Jods gespeichert. Das nicht in der Schilddrüse gespeicherte Jod wird mit einer biologischen Halbwertszeit von einigen Stunden ausgeschieden. Die biologische Halbwertszeit für Jod in der Schilddrüse ist abhängig vom Hormonumsatz und liegt in der Regel im Bereich von drei bis 60 Tagen.



Da die Speicherkurve der Schilddrüse am Anfang sehr steil verläuft, ist die Jodblockade dann am wirksamsten, wenn das stabile Jod kurz vor der Resorption des radioaktiven Jods im Organismus vorhanden ist. Aber auch in den ersten Stunden nach Aufnahme des radioaktiven Jods wird noch eine Reduktion der Speicherung erreicht (Jodgabe nach zwei Stunden – Reduktion um ca. 80 %; Jodgabe nach acht Stunden – Reduktion um ca. 40 %). Im Gegensatz dazu hat die Verabreichung von stabilem Jodid später als 24 Stunden nach abgeschlossener Inhalation oder Ingestion keinen erheblichen Einfluss mehr auf die Speicherung und damit auf die Strahlenbelastung der Schilddrüse durch das radioaktive Jod. Werden hohe Dosen von stabilem Jod wesentlich später als 24 Stunden nach Inkorporation eingenommen, verlängert sich sogar die Verweildauer des radioaktiven Jods. Deshalb sollte die Einnahme von Jodtabletten nach diesem Zeitpunkt nicht mehr durchgeführt werden.



Wie ist Kaliumjodid zu dosieren?



Neben dem Zeitpunkt der Verabreichung ist die Menge des stabilen Jods entscheidend für die Reduktion der Speicherung radioaktiven Jods. Da es wichtig ist, dass die Blockade möglichst vollständig ist, muss anfänglich eine hohe Plasmakonzentration an stabilem Jodid erreicht werden. Dies wird bei Erwachsenen durch eine Dosis von 130 mg Kaliumjodid erreicht, ohne dass im Allgemeinen Unverträglichkeiten von Seiten des Magens zu befürchten sind, wenn die Einnahme nicht auf nüchternen Magen erfolgt.



Eine Verringerung der Dosis reduziert eventuelle Nebenwirkungen nicht, eine Erhöhung wäre nicht schädlich, erbringt aber keine weitere nennenswerte Verringerung der Strahlenbelastung.



Das folgende Dosierungsschema wird empfohlen:



Diese Dosierung gilt nur für die 65 mg-Kaliumjodidtabletten aus der Notfallbevorratung



Personengruppe

Tagesgabe 
in mg Jodid

Tagesgabe 
in mg Kaliumjodid 

Tabletten à 65 mg 
Kaliumjodid

<1 Monat


12,5

16,25

1/4

1–36 Monate


25

32,5 

1/2

3–12 Jahre


50

65

1   

13–45 Jahre


100

130

2   

>45 Jahre


0

0

0   



(Bei Tabletten mit anderen Kaliumjodidgehalten bitte die jeweiligen Dosisangaben beachten.)



Schwangere und Stillende erhalten die gleiche Joddosis wie die Gruppe der 13- bis 45-Jährigen.



Die Einnahme von Kaliumjodid sollte möglichst nicht auf nüchternen Magen erfolgen. Die Tabletten können geschluckt oder in Flüssigkeit gelöst eingenommen werden. Die Einnahme kann – vor allem für Säuglinge und Kinder – durch Auflösen der Tablette in einem Getränk, z.B. Wasser oder Tee, erleichtert werden. Die Lösung ist jedoch nicht haltbar und muss sofort getrunken werden.



Jodtabletten sind nur nach Aufforderung durch die zuständige Behörde einzunehmen. Die Behörde wird gegebenenfalls in ihrer Aufforderung darauf hinweisen, welche Personengruppen die Tabletten einnehmen sollten.



Grundsätzlich ist eine einmalige Einnahme der Jodtabletten ausreichend. In Abhängigkeit von der radiologischen Lage kann die zuständige Behörde unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. länger anhaltende Jod-Freisetzung oder Einnahme von Jodtabletten, aber verzögerte Freisetzung) eine weitere Tabletteneinnahme empfehlen.



Für Schwangere, stillende Frauen und bei Neugeborenen ist durch Ergreifen anderer Maßnahmen sicherzustellen, dass eine zweite Einnahme von Jodtabletten nicht erforderlich ist.



Welche gesundheitlichen Risiken birgt die Jodblockade der Schilddrüse?



Personen mit einer bekannten Überempfindlichkeit gegen Jod (sehr seltene Erkrankungen, wie echte Jodallergie, Dermatitis herpetiformis Duhring, Jododerma tuberosum, hypokomplementämische Vaskulitis, Myotonia congenita) dürfen keine Jodtabletten einnehmen. Jodtabletten können selten auch zu Hautausschlägen, Gewebswassereinlagerungen, Halsschmerzen, Augentränen, Schnupfen, Speicheldrüsenschwellungen und Fieber führen.



In sehr seltenen Fällen können sich Zeichen einer Überempfindlichkeit gegen Jod (echte Jodallergie), z.B. Jodschnupfen oder Jodexanthem, bemerkbar machen. Die Möglichkeit einer Jodintoleranz sollte nicht überbewertet werden. Die Jodresorption kann durch Magenspülung mit Stärkelösung (30 g auf ein Liter solange, bis Blaufärbung verschwindet) oder mit 1 bis 3 % Natriumthiosulfatlösung gehemmt werden. Zur beschleunigten Ausscheidung sind die Gabe von Glaubersalz und eine forcierte Diurese zu empfehlen. Ein möglicher Schock sowie Wasser- und Elektrolytstörungen sind in üblicher Weise zu behandeln.



Bei Vorerkrankungen der Schilddrüse, auch wenn sie bis dahin asymptomatisch verliefen (insbesondere bei Knotenkröpfen mit funktioneller Autonomie), kann eine Hyperthyreose innerhalb von Wochen bis Monaten nach Jodgabe ausgelöst werden.



Umgekehrt neigen besonders Neugeborene und Säuglinge bei länger dauernder Jodverabreichung zur Hypothyreose.



Aufgrund des geringen Risikos der Karzinominduktion durch radioaktives Jod bei älteren Menschen und einer zunehmenden Häufigkeit funktioneller Autonomien mit Krankheitswert bei fortschreitendem Lebensalter, soll die Jodblockade bei über 45-Jährigen nicht durchgeführt werden.



Auslösung einer Hyperthyreose:



Eine gesunde Schilddrüse verfügt über mehrere Regulationsmechanismen, um ein Überangebot von Jod ohne eine schädliche Steigerung der Produktion von Schilddrüsenhormonen zu tolerieren. Die Pathophysiologie einer klinisch manifesten Hyperthyreose infolge eines erhöhten Jodangebots ist noch nicht restlos geklärt. Es ist jedoch bekannt, dass dieser Übergang in eine Hyperthyreose vorwiegend in Struma-Endemiegebieten mit einer hohen Prävalenz der funktionellen Autonomie auftritt.



Mit dieser Möglichkeit der Auslösung einer Hyperthyreose muss deshalb in der Bundesrepublik Deutschland bei hoher Jodzufuhr gerechnet werden.



Grundlage für die Entstehung einer Hyperthyreose können sein:



1.
Autoimmunhyperthyreose (M. Basedow),


2.
funktionelle Autonomie


unifokal/multifokal („autonomes Adenom“),


disseminiert.


Alle drei Schilddrüsenerkrankungen können auch latent ohne klinische Hyperthyreosezeichen bestehen.



Kontraindikationen gegen die Jodblockade der Schilddrüse:



In der Literatur gelegentlich genannte, jedoch unbegründete Kontraindikationen sind Herzinsuffizienz und die verschiedenen Formen der Tuberkulose. Auch Schwangerschaft und Stillzeit sowie Hypothyreosen und Thyreoiditiden werden genannt, stellen jedoch keine Kontraindikationen dar.



Die Jodgabe muss bei bekannter Jodallergie unterbleiben. Diese ist nicht zu verwechseln mit einer Unverträglichkeitsreaktion bzw. Allergie gegen Röntgenkontrastmittel, die meist nicht durch das darin enthaltene Jod verursacht wird.



Patienten mit den sehr seltenen Erkrankungen echte Jodallergie, Dermatitis herpetiformis Duhring, Jododerma tuberosum, hypokomplementämische Vaskulitis, Myotonia congenita dürfen auf keinen Fall Jod einnehmen.



Unter Behandlung stehende Patienten mit Hyperthyreose sollten Jodtabletten erst nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt einnehmen. Alle hyperthyreoten Patienten – ob unter Behandlung oder unbehandelt – sind nach Beendigung der Notfallsituation mit Jodgabe in kurzfristigen Abständen mittels Hormonanalysen ärztlich zu überwachen.



Möglichkeiten der Schilddrüsenblockade durch andere Medikation:



Da durch die Blockade die Speicherung von radioaktivem Jod in der Schilddrüse möglichst weitgehend verhindert werden soll, eignet sich neben Jod am besten Perchlorat, das die Aufnahme von Jod kompetitiv hemmt, z.B. Natriumperchlorat als Irenat®.



Da die Jodblockade durch Jodid effektiver ist als durch Perchlorat, sollte letzteres nur dann benutzt werden, wenn hohe Jodgaben (100 mg Jodid) kontraindiziert sind.



Es empfiehlt sich für Erwachsene folgende Dosierung:



Natriumperchlorat als Irenat®
– initial 60 Tropfen,
danach alle 6 Stunden 15 Tropfen über 7 Tage.



Kontraindikationen, wie Überempfindlichkeitsreaktionen (Agranulozytose) und schwere Leberschäden, sind zu beachten.



A 3 Merkblatt für die Bevölkerung



Der Strahlenunfall mit Freisetzung von radioaktivem Jod:



Bei Unfällen in kerntechnischen Anlagen, insbesondere in Kernkraftwerken, kann es unter ungünstigen Umständen zur Freisetzung von radioaktiven Stoffen – darunter auch radioaktivem Jod – kommen. Radioaktives Jod (wissenschaftliche Schreibweise Iod) hat die gleichen chemischen und biologischen Eigenschaften wie das in der Nahrung vorkommende natürliche Jod und wird deshalb wie normales, nicht radioaktives Jod in der Schilddrüse gespeichert. Diese konzentrierte Speicherung in der Schilddrüse unterscheidet Jod von anderen Stoffen. Durch die Einnahme von Jodtabletten als Gegenmaßnahme (Jodblockade der Schilddrüse) kann diese Speicherung verhindert werden.



Wie kommt radioaktives Jod in den Körper?



Wie andere Stoffe aus der Umwelt des Menschen kann radioaktives Jod auf drei Wegen in den Körper (Inkorporation) gelangen:



1.
mit der Luft über die Atemwege (Inhalation),


2.
mit Nahrung und Getränken über Magen und Darm (Ingestion) und


3.
über die Haut nach Kontamination.


Die Aufnahme über die Haut ist üblicherweise so geringfügig, dass sie außer Betracht bleiben kann. Die Aufnahme mit Wasser oder Nahrung kann erheblich sein, wenn z.B. Milch getrunken wird, die von Kühen stammt, die auf der Weide mit radioaktivem Jod verunreinigtes Gras gefressen haben. Diese Aufnahme ist jedoch beim Strahlenunfall sehr einfach zu verhindern: solche Milch oder auch Gemüse von Flächen, auf denen sich radioaktives Jod niedergeschlagen haben kann, werden dem unmittelbaren Verzehr entzogen.



Die Aufnahme von radioaktivem Jod durch die Atemluft lässt sich durch Verbleiben im Haus nur geringfügig herabsetzen. Durch die Einnahme von Jodtabletten wird die Wirkung des radioaktiven Jods im Körper durch möglichst schnelle Ausscheidung verringert.



Wie wirken Jodtabletten?



Die Schilddrüse benötigt für ihre normale Funktion geringe Mengen Jod, die in der Regel mit der Nahrung aufgenommen werden. Deshalb wird zur Vorbeugung von Jodmangelkrankheiten generell die Verwendung von jodiertem Speisesalz oder die Einnahme von Tabletten mit niedrigem Jodgehalt (0,1 bis 0,2 mg) empfohlen; diese Tabletten sind jedoch nicht zur Blockade der Schilddrüse geeignet.



Zur Blockade sind nur die wesentlich höher dosierten Jodtabletten geeignet, da sie die Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse verhindern. Das überschüssige Jod wird schnell aus dem Körper ausgeschieden.



Warum die vorbeugende Einnahme von Jodtabletten?



Die Einnahme von Jodtabletten schützt – das muss betont werden – ausschließlich vor der Aufnahme von radioaktivem Jod in der Schilddrüse, nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe. Der Schutz ist dann am wirksamsten, wenn die Jodtabletten kurz vor oder praktisch gleichzeitig mit dem Einatmen von radioaktivem Jod eingenommen werden. Aber auch wenige Stunden nach dem Einatmen von radioaktivem Jod wird noch ein gewisser Schutz erzielt. Später als ein Tag nach der Aufnahme des radioaktiven Jods schützt die Einnahme von Jodtabletten nicht mehr; sie ist dann eher schädlich. Für zu früh eingenommene Jodtabletten gilt das gleiche.



Wo und wann sind Jodtabletten bei Bedarf erhältlich?



Die zuständigen Behörden haben Jodtabletten in ausreichender Menge bevorratet und so gelagert, dass sie im Bedarfsfall unverzüglich an die betroffene Bevölkerung ausgegeben werden können, sofern sie nicht schon unter bestimmten Voraussetzungen vorher an die Haushalte ausgegeben wurden. „Bedarfsfall“ bedeutet hierbei, dass – je nach Entwicklung eines Unfalles – die Einnahme von Jodtabletten empfehlenswert werden könnte.



Die Ausgabe der Jodtabletten ist eine Vorsorgemaßnahme und bedeutet nicht, dass die Tabletten sofort eingenommen werden sollen. Wenn die Einnahme tatsächlich erforderlich sein sollte, so wird die betroffene Bevölkerung durch die zuständige Behörde dazu ausdrücklich z.B. durch Rundfunk- oder Lautsprecherdurchsage aufgefordert.



Da nur die Behörden aufgrund der Bewertung der Unfalllage die Entscheidung treffen können, ob die Einnahme von Jodtabletten erforderlich ist, sollten die Tabletten nie aus eigener Veranlassung oder Befürchtung eingenommen werden.



Zusammensetzung der Tabletten zur Jodblockade:



Eine Tablette aus der Notfallbevorratung in Deutschland enthält 65 mg Kaliumjodid entsprechend 50 mg Jodid.



Über die Apotheken sind gegebenenfalls auch Jodtabletten mit 130 mg Kaliumjodid, entsprechend 100 mg Jodid, erhältlich.



Wirkungen und Anwendungszweck:



Die Jodtabletten sättigen in der angegebenen Dosierung und bei Einnahme zum empfohlenen Zeitpunkt die Schilddrüse mit Jod und verhindern damit die Speicherung radioaktiven Jods (sogenannte Jodblockade). Diese Art von Jodtabletten ist nicht zur Jodsubstitution geeignet. Eine medizinische Behandlung mit Jod sollte fortgeführt werden.



Dosierung:



Diese Dosierung gilt nur für 65 mg-Kaliumjodidtabletten (z.B. aus der Notfallbevorratung).



Personen im Alter von 13 bis 45 Jahren nehmen einmalig zwei Tabletten ein. Kinder von 3 bis 12 Jahren nehmen einmalig eine Tablette ein. Kleinkinder vom 1. bis zum 36. Lebensmonat nehmen einmalig ½ Tablette ein. Säuglinge bis zum 1. Lebensmonat nehmen einmalig ¼ Tablette ein.



(Bei Tabletten mit anderen Kaliumjodidgehalten bitte die Dosisangaben in der Gebrauchsinformation beachten.)



Schwangere und Stillende erhalten die gleiche Joddosis wie die Gruppe der 13- bis 45-Jährigen. Erwachsene über 45 Jahren sollen keine Jodtabletten einnehmen, da bei ihnen das Gesundheitsrisiko für schwerwiegende Schilddrüsenerkrankungen (z.B. durch Jod ausgelöste Schilddrüsenüberfunktion) infolge der Tabletteneinnahme höher ist als das Strahlenrisiko durch Einatmen von radioaktivem Jod.



Die Jodtabletten sollen möglichst nicht auf nüchternen Magen eingenommen werden. Die Tabletten können geschluckt oder in Flüssigkeit gelöst eingenommen werden. Die Einnahme kann – vor allem für Säuglinge und Kinder – durch Auflösen der Tablette in einem Getränk, z.B. Wasser oder Tee, erleichtert werden. Die Lösung ist jedoch nicht haltbar und sollte sofort getrunken werden.



Jodtabletten sind nur nach Aufforderung durch die zuständige Behörde einzunehmen. Die Behörde wird gegebenenfalls in ihrer Aufforderung darauf hinweisen, welche Personengruppen die Tabletten einnehmen sollten.



Grundsätzlich ist eine einmalige Einnahme der Jodtabletten ausreichend. Eine weitere Tabletteneinnahme sollte nur erfolgen, wenn die zuständige Behörde dies empfiehlt.



Jodtabletten in der Schwangerschaft:



Auch in der Schwangerschaft soll, unabhängig vom Alter der Schwangeren, die empfohlene Jodblockade durchgeführt werden, da durch die Jodeinnahme Mutter und Ungeborenes geschützt werden. Die Schwangere sollte jedoch den Arzt über eine Jodeinnahme informieren, da dieser dann die ohnehin erfolgende Schilddrüsenvorsorgeuntersuchung des Neugeborenen besonders beachten wird.



Unverträglichkeit und Risiken:



Jodtabletten dürfen nicht eingenommen werden bei:



bekannter Überempfindlichkeit gegenüber Jod (diese ist sehr selten und darf nicht mit der häufigen Allergie gegen Röntgenkontrastmittel verwechselt werden),


Dermatitis herpetiformis Duhring,


Hypokomplementämischer Vaskulitis (allergisch bedingter Entzündung der Blutgefäßwände).


Die Einnahme von Jodtabletten kann selten auch zu allergischen Reaktionen wie Hautausschlägen, Gewebswassereinlagerungen, Halsschmerzen, Augentränen, Schnupfen, Speicheldrüsenschwellungen, Fieber u. Ä. Symptomen führen.



Personen, die an einer Überfunktion der Schilddrüse leiden oder litten, sollten Jodtabletten erst nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt einnehmen. Bei Patienten, die an einer Überfunktion oder an einer knotig veränderten Schilddrüse leiden, ist das Risiko einer Verschlechterung des Zustands bzw. der Auslösung einer Schilddrüsenüberfunktion erhöht. Deshalb ist nach Einnahme ein baldiger Besuch beim Arzt erforderlich.



Personen, bei denen im Zeitraum von einer Woche bis zu drei Monaten nach Einnahme der Tabletten Beschwerden auftreten, die auf eine Schilddrüsenüberfunktion hinweisen, wie Unruhezustände, Herzklopfen, Gewichtsabnahme oder Durchfall, sollten ebenfalls ihren Arzt aufsuchen.



Personen über 45 Jahre:



Die Durchführung der Jodblockade bei Personen, die über 45 Jahre alt sind, wird aus zwei Gründen nicht empfohlen:



1.
Mit steigendem Lebensalter treten häufiger Stoffwechselstörungen in der Schilddrüse auf. Eine solche sogenannte funktionelle Autonomie erhöht das Risiko der Nebenwirkungen einer Jodblockade.


2.
Mit steigendem Lebensalter nimmt das Risiko einer bösartigen Schilddrüsengeschwulst, die durch Strahlung verursacht wird, stark ab.


Begleiterscheinungen:



Eine Reizung der Magenschleimhaut kann insbesondere bei Einnahme von Jodtabletten auf nüchternen Magen auftreten. Bei längerer Dauer der Erscheinungen sollte ein Arzt befragt werden.



Wogegen schützen Jodtabletten nicht?



Jodtabletten schützen nicht vor Strahlung, die von außerhalb den Körper trifft, oder vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe außer Jod, die in den Körper aufgenommen worden sind.



Dringende Bitte:



Folgen Sie deshalb in Ihrem eigenen Interesse den Anweisungen der Behörde, die die Lage beurteilen kann und geeignete weitere Schutzmaßnahmen anordnet.



Hinweis:



Die Tabletten sind – wie andere Arzneimittel – vor Licht und Feuchtigkeit geschützt und für Kinder unzugänglich aufzubewahren.



Wegen der möglichen Nebenwirkungen sollten Jodtabletten nur nach ausdrücklicher Aufforderung durch die zuständigen Behörden und nicht von Personen über 45 Jahre eingenommen werden. Für Schwangere gilt diese Altersbegrenzung nicht.