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Bekanntmachung einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (Zusammenfassung und Bewertung der Jahrestagung 2012 der Strahlenschutzkommission: Ein Jahr nach Fukushima - eine erste Bilanz aus der Sicht der Strahlenschutzkommission)

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Bekanntmachung
einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission
(Zusammenfassung und Bewertung der Jahrestagung 2012
der Strahlenschutzkommission:
Ein Jahr nach Fukushima – eine erste Bilanz aus der Sicht
der Strahlenschutzkommission)



Vom 27. März 2013



Nachfolgend wird die Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK), verabschiedet in der 257. Sitzung der Kommission am 5./6. Juli 2012, bekannt gegeben.



Bonn, den 27. März 2013
RS II 2 - 17027/2



Bundesministerium
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit



Im Auftrag
Dr. Böttger





Anlage



Zusammenfassung und Bewertung der Jahrestagung 2012
der Strahlenschutzkommission:
Ein Jahr nach Fukushima – eine erste Bilanz aus der Sicht der Strahlenschutzkommission
Stellungnahme der Strahlenschutzkommission
Verabschiedet in der 257. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 5./6. Juli 2012





Inhaltsverzeichnis



1

Einleitung

2

Stand der Erkenntnisse

2.1

Der Unfall, die Auswirkungen und Maßnahmen in Japan

2.1.1

Unfallablauf und Unfallursache

2.1.2

Maßnahmen zur Stabilisierung der Anlage und Beseitigung der Unfallfolgen

2.1.3

Unfallfolgen in Japan

2.2

Sofortmaßnahmen in Deutschland und in anderen Staaten

2.2.1

Maßnahmen des Bundes und der Länder

2.2.2

Einsatz des Krisenstabes der SSK

2.2.3

RSK-Sicherheitsüberprüfung und EU-Stresstests

2.2.4

Maßnahmen anderer Staaten

2.3

Maßnahmen internationaler Organisationen

2.4

Analysen zum atmosphärischen Transport der radioaktiven Stoffe und zu den radiologischen Auswirkungen in Deutschland

2.4.1

Globaler atmosphärischer Transport und Auswirkungen auf Deutschland

2.4.2

Atmosphärische Ausbreitung im Nahbereich von Fukushima und dadurch angestoßene Vergleichsrechnungen in Deutschland

2.4.3

Analyse der radiologischen Auswirkungen in Deutschland

2.5

Analyse der Medienberichterstattung in ausgewählten europäischen Staaten

2.6

Analyse der Notfallmaßnahmen

2.7

Aufgaben und Konsequenzen für den Notfallschutz in Deutschland

2.7.1

Konsequenzen für den Notfallschutz

2.7.2

Verbesserung der Quelltermbestimmung

2.7.3

Übergang vom Notfall in eine normale Situation

2.7.4

Übungskonzepte

2.8

Konsequenzen für den Strahlenschutz

2.9

Analyse der Erfahrungen von Vollzugsbehörden und notwendige rechtliche Konsequenzen

2.9.1

Erfahrungen des Landes Hessen

2.9.2

Rechtliche Konsequenzen

3

Zusammenfassende Stellungnahme der SSK





1
Einleitung


Am 11. März 2011 um 14.46 h Ortszeit erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,0 den Norden Japans. Das Epizentrum des Bebens lag ca. 130 km vor der Ostküste des nördlichen Teils der Hauptinsel Honshu. Das Erdbeben löste einen Tsunami aus, der ca. eine Stunde später mit mehreren bis zu 15 m hohen Flutwellen die küstennahen Regionen verwüstete. Diese Naturkatastrophe hatte verheerende Folgen: 15 854 Menschen starben, etwa 6 000 Personen wurden verletzt. Im März 2012, ein Jahr nach der Katastrophe, galten noch über 3 000 Menschen als vermisst und ca. 340 000 Menschen mussten weiterhin in Notunterkünften leben. Infolge dieser Naturkatastrophe kam es am Standort des Kernkraftwerkes Fukushima Dai-ichi zu einem sehr schweren kerntechnischen Unfall, der von der japanischen Regierung später in INES 7 eingeordnet wurde. An diesem Standort wurden sechs Siedewasserreaktoren betrieben, von denen besonders die Blöcke 1 bis 4 von dem Unfall betroffen waren. In den Blöcken 1, 2 und 3 wurden die Reaktorkerne weitgehend zerstört. Die Folge war eine erhebliche Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung der Kraftwerke, die umfangreiche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung erforderlich machte.



Ein Jahr nach der Katastrophe und dem damit verbundenen kerntechnischen Unfall hat die SSK in ihrer Jahrestagung 2012 vom 14. bis 16. März in Hamburg eine erste Bilanz aus der Sicht des Strahlenschutzes gezogen. Im Rahmen dieser Tagung wurden der Stand des Wissens über den Unfall, seine Ursachen und seine Folgen präsentiert, analysiert und bewertet, die gewonnenen Erkenntnisse und die möglichen Konsequenzen insbesondere für den Strahlenschutz und den Notfallschutz in Deutschland diskutiert.



Die Teilnehmer der Jahrestagung waren Mitglieder der SSK und ihrer Ausschüsse, Vertreter zuständiger Ministerien der Bundesländer, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) und des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), weitere Referenten u. a. der Vorsitzende der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) und Mitarbeiter der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) sowie geladene Gäste.



Die vorliegende zusammenfassende Stellungnahme bezieht sich ausschließlich auf den Kenntnisstand im März 2012.





2
Stand der Erkenntnisse


2.1
Der Unfall, die Auswirkungen und Maßnahmen in Japan


In Vorträgen von Herrn Macqua und Herrn Stück (beide GRS) sowie Herrn Michel, dem derzeitigen Vorsitzenden des SSK-Krisenstabs, wurden der Ablauf und die Auswirkungen des Unfalls in Japan umfassend dargestellt und, soweit zum jetzigen Zeitpunkt möglich, bewertet sowie Lehren abgeleitet. Die Inhalte der Präsentationen wurden im Rahmen einer Abendvorlesung „Der Reaktorunfall von Fukushima Dai-ichi und seine Folgen für Mensch und Umwelt“, die Herr Michel vor Interessierten im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hielt, weiter vertieft.



2.1.1
Unfallablauf und Unfallursache


Am 11. März 2011 waren die Reaktoren in den Blöcken 1, 2 und 3 am Standort Fukushima Dai-ichi in Betrieb, die Reaktoren in den Blöcken 4, 5 und 6 waren zu Wartungsarbeiten abgeschaltet. In Block 4 befanden sich alle Brennelemente im Brennelementlagerbecken. Durch das Erdbeben wurden die externe Stromversorgung des Standortes zerstört und die Reaktoren automatisch abgeschaltet. Die Notstromversorgung und die Nachwärmeabfuhr funktionierten zunächst auslegungsgemäß. Der nachfolgende Tsunami zerstörte jedoch die Notstromanlagen und die Systeme der Kühlwasserversorgung und Nachwärmeabfuhr der Reaktoren 1 bis 4. Dadurch kam es zur Aufheizung und Freilegung der Reaktorkerne der Blöcke 1 bis 3 und zum Beginn der von Zirkon-Wasser-Reaktionen begleiteten Kernschmelze. Das Versagen der Nachwärmeabfuhr führte zum Druckanstieg im Containment. Die dann mehrfach notwendigen Druckentlastungen waren mit sehr hohen Freisetzungen radioaktiver Stoffe verbunden. Über Undichtigkeiten des Containments gelangte Wasserstoff in die Reaktorgebäude, dort kam es zu zum Teil spektakulären Explosionen des Wasserstoff-Luft-Gemisches, die erhebliche Schäden an den Gebäuden und Freisetzungen radioaktiver Stoffe zur Folge hatten. Sogar im Block 4 wurde eine Explosion ausgelöst, als der Wasserstoff über gemeinsame Teile des Lüftungssystems aus anderen Blöcken dort hinein gelangte. Später durchgeführte Analysen der Betreiberfirma TEPCO zeigten, dass in den drei Reaktoren von Kernschmelzen in unterschiedlicher Ausprägung ausgegangen werden muss.



Ursache des kerntechnischen Unfalls war die unzureichende Auslegung der Kernkraftwerke gegen Hochwassereinwirkungen infolge eines Tsunamis. So hatte die Flutschutzmauer nur eine Höhe von 5,7 m, die Flutwelle des Tsunamis am 11. März 2011 erreichte aber eine Höhe von ca. 14 m. Weitere Faktoren, wie die ungünstige Anordnung von Komponenten, das Fehlen gebunkerter Systeme und die unzureichende Berücksichtigung des Station-Black-Out, trugen zum Unfallgeschehen bei.



2.1.2
Maßnahmen zur Stabilisierung der Anlage und Beseitigung der Unfallfolgen


Zu den ersten schadensbegrenzenden Maßnahmen zählten u. a. die Druckentlastung der Containments, die Notbespeisung der Reaktoren zunächst mit Meerwasser, später mit Frischwasser über mobile Pumpen und die Kühlung der Brennelementlagerbecken mit provisorischen Hilfsmitteln, wie z.B. Betonpumpen, die allerdings erst nach einigen Tagen erfolgreich durchgeführt werden konnte. Ein Jahr nach dem Erdbeben befinden sich die Reaktoren in einem weitgehend stabilen Zustand. Die Kühlung ist mehrfach redundant sichergestellt, und weiteren Wasserstoffexplosionen wird durch das Einspeisen von Stickstoff vorgebeugt.



Infolge der Druckentlastungen und der Explosionen wurden über einen Zeitraum von mehr als einer Woche radioaktive Stoffe in erheblichem Ausmaß freigesetzt. Die Ortsdosisleistung auf dem Gelände betrug bis zu 12 mSv/h, innerhalb der Gebäude bis zu einigen Sv/h. Hoch kontaminierte Trümmerteile und Systemkomponenten behinderten die Arbeit der Einsatzkräfte. In den unteren Bereichen der Gebäude hatten sich große Mengen hoch kontaminierten Wassers angesammelt, und das unkontrollierte Abfließen hoch kontaminierten Wassers ins Meer war über einen Zeitraum von mehreren Wochen ein Problem. Ein Jahr später haben sich die Bedingungen wesentlich verbessert. Die schon im Juni 2011 begonnene Aufbereitung der kontaminierten Wässer wird erfolgreich durchgeführt. Bis Ende Januar 2012 konnten 223 000 m3 Wasser aufbereitet werden, und auch die Einhausung der Blöcke kommt gut voran. Durch das Bergen und Verpacken von Trümmerteilen, das Binden der Kontamination auf Oberflächen sowie durch Abschirmungen konnten die Arbeitsbedingungen stark verbessert werden. Zur Vermeidung weiterer Freisetzungen radioaktiver Stoffe ins Meer wurden Barrieren errichtet und Beton zum Binden der radioaktiven Stoffe am Meeresboden eingebracht.



Ende Januar 2012 legte der Betreiber TEPCO einen Plan (die so genannte Roadmap) vor, in dem die Maßnahmen aufgeführt sind, die in den kommenden 40 Jahren zur Beseitigung der Unfallfolgen am Standort durchgeführt werden sollen.



2.1.3
Unfallfolgen in Japan


2.1.3.1
Radiologische Situation


Ein Jahr nach den Explosionen im Kernkraftwerk Fukushima Dai-ichi ist es zwar für eine abschließende Bewertung noch zu früh, aber mit den vorliegenden Informationen über die lokalen und großräumigen Kontaminationen und über die Radioaktivität in Lebensmitteln können die radiologischen Folgen eingeschätzt werden.



Es liegen umfangreiche Untersuchungen zum Fallout und zu den Ortsdosisleistungen in Fukushima und den angrenzenden Präfekturen vor. Die Falloutsituation wurde anfänglich durch Messfahrzeuge, später durch Messungen von Flugzeugen und schließlich durch Feldmessungen und Analysen von Bodenproben erfasst. Während anfänglich I-131 und andere kurzlebige Radionuklide die Dosisraten dominierten, sind langfristig nur Cs-134 und Cs-137 relevant. Sr-89 und Sr-90 sowie Pu-238 und Pu-239+240 wurden zwar auch nachgewiesen, der Fallout war jedoch so gering, dass diese Radionuklide keinen relevanten Beitrag zur Strahlenexposition leisten.



In den hoch kontaminierten Regionen, die sich vom Kraftwerk über den 30-km-Umkreis nach Nordwesten in Richtung der Stadt Fukushima erstrecken, lebten 69 400 Personen in Gebieten mit mehr als 500 kBq/m2 Cs-134 + Cs-137-Fallout und 26 400 Personen in Gebieten mit mehr als 1 MBq/m2 Fallout. Die Anzahl der Evakuierten betrug 78 000 (im Umkreis von 20 km) und 10 000 (in Iitate). Die veranlassten Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung (Evakuierung etc.) stehen im Einklang mit dem Regelwerk der ICRP1. Als vorläufiger Grenzwert für eine Evakuierung wurden 20 mSv effektive Dosis über externe Strahlung im ersten Jahr festgelegt. Für die über Ingestion verursachte Strahlenexposition gilt ein Grenzwert von 1 mSv effektive Dosis pro Jahr.



Die vorläufigen japanischen Grenzwerte für Nahrungsmittel wurden von der EU – auch auf Empfehlung der SSK hin – übernommen. Der Beschluss der japanischen Regierung, diese Grenzwerte zum 1. April 2012 abzusenken, erfolgt nach Aussage der japanischen Regierung nicht aus radiologischen Gründen, sondern um das Vertrauen der Verbraucher in die Sicherheit der Lebensmittel zu erhöhen.



2.1.3.2
Quelltermabschätzungen


Der atmosphärische Quellterm in Fukushima Dai-ichi kann mit ~1017 Bq für I-131 und jeweils ~1016 Bq für Cs-134 und Cs-137 abgeschätzt werden, womit der Unfall als INES 7 einzustufen war. Die Freisetzungen in Fukushima Dai-ichi sind jedoch um mindestens eine Größenordnung geringer als in Tschernobyl; für Sr-90 und die Pu-Isotope ist der Unterschied noch größer.



Aus der Anlage Fukushima Dai-ichi wurden hohe Aktivitäten mit kontaminiertem Kühlwasser in den Pazifik freigesetzt. Nach Angaben von TEPCO vom 21. April 2011 wurden auf diesem Weg 2,8∙115 Bq I-131 und je 9,4∙1014 Bq Cs-134 und Cs-137 ins Meer eingeleitet. Erst Ende April lagen die Aktivitätskonzentrationen vor der Anlage wieder unterhalb der meldepflichtigen Konzentrationen.



2.1.3.3
Abschätzung der Strahlenexposition der Beschäftigten


TEPCO hat laut GRS am 27. Dezember 2011 die Strahlendosen für 18 846 Arbeiter, die zwischen März und November 2011 auf der Anlage gearbeitet haben, publiziert. Danach erhielten 171 Arbeiter mehr als 100 mSv.



100 – 150 mSv

139 Arbeiter

150 – 200 mSv

23 Arbeiter

200 – 250 mSv

3 Arbeiter

mehr als 250 mSv

6 Arbeiter



Der Grenzwert für die berufliche Strahlenexposition bei Notfalleinsätzen liegt bei 250 mSv. Deterministische Schäden wurden nicht berichtet2.



2.1.3.4
Abschätzung der radiologischen Konsequenzen für die Bevölkerung


Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Nordjapan (inkl. Tokio) liegen die Schilddrüsendosen für Kleinkinder unter 10 mSv und die effektiven Dosen für Kleinkinder unterhalb von 1 mSv.



Für Evakuierte und Menschen in der näheren Umgebung beträgt die effektive Dosis durch externe Bestrahlung im ersten Jahr unter 20 mSv und die effektive Dosis durch interne Bestrahlung im ersten Jahr unter 1 mSv. Die effektive unfallbedingte Lebenszeitdosis soll entsprechend dem Ziel und der Vorhersage der japanischen Regierung 100 mSv nicht überschreiten. Die Schilddrüsendosen für Kleinkinder liegen nach Messungen an 1 080 Kindern aus Kawamata City (26. bis 30. März 2011 durch NISA3) unter 200 mSv.



Die Rekonstruktion der externen Strahlenexposition von 9 747 Menschen in Namie Town, Iitate Village und Kawamata Town in der Präfektur Fukushima in den ersten vier Monaten nach dem Unfall hat ergeben, dass 99,8 % der Menschen eine Dosis unter 15 mSv erhalten haben, für mehr als die Hälfte (58 %) waren es weniger als 2 mSv, die maximale Dosis betrug 23 mSv.



Die Ortsdosisleistungen in allen Präfekturen außer Fukushima liegen innerhalb der Schwankungsbreite der natürlichen Ortsdosisleistung in Japan. In der Präfektur Fukushima sind die Kontaminationen laut vorliegender detaillierter Karten sehr inhomogen. Die Ortsdosisleistungen werden sich aufgrund des Verhältnisses der Cs-Isotope mit ihren unterschiedlichen Halbwertszeiten innerhalb der ersten fünf Jahre halbieren. Als vorläufiger Grenzwert für Umsiedlungen wurde eine Ortsdosisleistung von 3,8 Mikrosievert pro Stunde festgelegt.



Daten für Nahrungsmittel werden seit September 2011 durch das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales in Form von EXCEL-Tabellen im Internet auch in englischer Sprache publiziert.



Die Probennahme erfolgt nicht repräsentativ, sondern ist stark von Nahrungsmitteln von besonderem öffentlichem Interesse und Nahrungsmitteln mit wahrscheinlich hohen Aktivitätskonzentrationen geprägt. Jedoch sind die Daten hinreichend, um die Kontaminationslage für Nahrungsmittel zu beurteilen. Die Interpretation der Daten muss für die Cäsium-Isotope allerdings Spezies-spezifisch erfolgen und darf nicht allein nach den klassischen Lebensmittelgruppen durchgeführt werden.



Die japanische Regierung trägt dem durch Vermarktungsverbote und Verzehrsempfehlungen Rechnung. Bei Überschreitung der nach dem Unfalleintritt festgelegten Grenzwerte werden Vermarktungsverbote erlassen und Empfehlungen ausgesprochen, auf den Verzehr zu verzichten. Die Durchsetzung der Anordnungen und die Überwachung der Radioaktivität in Lebensmitteln liegt in der Verantwortung der Präfekturen.



Für die Präfektur Fukushima liegen die effektiven Dosen durch Ingestion, die auf der Basis der im September und November 2011 in Lebensmitteln gemessenen Aktivitätskonzentrationen berechnet wurden, unter 0,1 mSv pro Jahr. Damit ist die Strahlenexposition durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittel deutlich geringer als die durch natürliches K-40 in Lebensmitteln (ca. 0,2 mSv effektive Dosis pro Jahr).



Diese Einschätzung ist konsistent mit Messungen der Körperaktivität an Menschen aus Minami Soma. Die Mehrheit der 4 745 untersuchten Personen wies sehr geringe Körperaktivitäten auf – vergleichbar mit den Cs-137 Körperaktivitäten in Süddeutschland nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986.



2.1.3.5
Beurteilung spezieller Lebensmittel


Es gab im März 2011 in einigen Präfekturen kurzzeitige Überschreitungen der nach dem Unfalleintritt festgelegten Grenzwerte für Iod-131 in Trinkwasser, aber keine Überschreitungen für Cäsium-Isotope.



In einigen Präfekturen wurden spezifische Cäsium-Aktivitäten oberhalb der vorläufigen Grenzwerte in Teeblättern gemessen und entsprechende Vermarktungsverbote erlassen.



Die Vermarktung und Verfütterung von im Freien gelagertem Reisstroh führte in der 2. Juli-Woche 2011 zu hohen spezifischen Aktivitäten von Cs-134 und Cs-137 in Rindfleisch, die über den vorläufigen Grenzwerten lagen. Daraufhin wurden Vermarktungsverbote für Reisstroh und Rindfleisch erlassen.



2.1.3.6
Strahlenexposition beim Aufenthalt in Japan


Seit Ende Mai 2011 sind die kurzlebigen Radionuklide weitgehend abgeklungen. Insbesondere Iod-131 stellt kein Problem mehr dar. Zu betrachten sind lediglich Cäsium-134 und Cäsium-137. Strontium- und Plutonium-Isotope werden, falls die Situation im Kernkraftwerk Fukushima Dai-ichi weiterhin stabil bleibt, keine relevanten Beiträge zur Strahlenexposition leisten.



Die gesamte, d. h. die natürliche und die durch langlebige Radionuklide aus dem Unfall in Fukushima Dai-ichi bewirkte Strahlenexposition eines Menschen beim Aufenthalt in Japan, mit Ausnahme der Präfektur Fukushima, wird im Bereich der Schwankungsbreite der weltweiten natürlichen Strahlenexposition liegen und z.B. geringer sein als die natürliche Strahlenexposition vieler Menschen in Europa.



2.2
Sofortmaßnahmen in Deutschland und in anderen Staaten


Neben Herrn Michel stellten Herr Böttger (BMU) und Herr Wieland, der Vorsitzende der RSK, die in Deutschland nach dem Reaktorunfall getroffenen Maßnahmen zur Diskussion, während sich Herr Maqua (GRS) mit den Maßnahmen anderer Staaten befasste.



2.2.1
Maßnahmen des Bundes und der Länder


Mit dem Erdbeben, dem Tsunami und dem daraufhin eingetretenen Reaktorunfall wurde im BMU eine Reihe von Aktivitäten ausgelöst. Während in den ersten Tagen die Beobachtung der Lage sowie das Sammeln, Auswerten und Beurteilen von Informationen im Mittelpunkt stand, rückte zunehmend die Information der Öffentlichkeit, die Beratung von Behörden, Firmen und der Bevölkerung in Deutschland sowie die Beratung der Deutschen Botschaft in Tokio in den Vordergrund. Da diese Aufgaben auf Dauer nicht mit den normalen Arbeitsstrukturen des BMU zu erfüllen waren, wurde am 14. März 2011, obwohl keine Notfallsituation für Deutschland bzw. Europa bestand, die Alarmorganisation des BMU in Teilen aktiviert. Auch der Krisenstab der SSK wurde einberufen. Im Mittelpunkt der Arbeiten standen aktuelle Informationen für die Öffentlichkeitsarbeit von Behörden auf Bundes- und Landesebene. Im Wesentlichen wurden Fragestellungen aus folgenden Bereichen bearbeitet:



Jodtabletten für Japan


Angebote von Hilfeleistungen


Kontamination von Personen, Flugzeugen und Luftfracht


Import von Lebensmitteln


Umgang mit kontaminierten Waren und Containern auf Schiffen.


Außerdem waren internationale Informationsstränge zu bedienen. Ab Ende April 2011 wurden die Aktivitäten wieder auf die etablierten Arbeitsstrukturen des BMU zurückverlagert. Seitdem wurden aber immer noch Experten in die Deutsche Botschaft in Japan entsandt, bis am 1. April 2012 an der Botschaft der Dienstposten eines Umweltattachés zur Beratung der Botschaft eingerichtet wurde.



2.2.2
Einsatz des Krisenstabes der SSK


Der Krisenstab der SSK wurde am 14. März 2011 einberufen und hat sich bis Ende April 2011 mit der Beurteilung der radiologischen Lage befasst. Dazu gehörte der Überblick über die Anlagen in Fukushima Dai-ichi, die auslösenden Ereignisse, den Unfallablauf und die aus dem Unfall resultierenden Kontaminationen der Umwelt und ihre Bewertung. Aber nicht nur die Lage in Japan, sondern auch Maßnahmen in Deutschland und Europa waren wichtig. Im direkten Kontakt mit dem Berater der Deutschen Botschaft in Tokio und mit japanischen Kollegen traten Fragen von in Japan lebenden Deutschen, aber auch von japanischen Bürgern nach den Strahlenexpositionen beim Aufenthalt in Japan in den Vordergrund. Die Aufgabe war, aus dem Puzzle der verfügbaren Informationen eine verständliche Gesamtschau der radiologischen Situation zu erarbeiten sowie die Arbeiten zur Verbesserung des Zustands der Anlagen in Fukushima Dai-ichi zu verfolgen und zu bewerten. Damit konnte die SSK Befürchtungen dort ausräumen, wo sie unbegründet waren, und dort zur Vorsicht raten, wo relevante Strahlenexpositionen möglich waren.



2.2.3
RSK-Sicherheitsüberprüfung und EU-Stresstests


Nach den Ereignissen in Fukushima wurde die RSK durch das BMU gebeten, eine Sicherheitsüberprüfung der deutschen Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der Ursachen und der vorliegenden grundsätzlichen Erkenntnisse vorzunehmen.



Die Ereignisse in Fukushima mit den katastrophalen Folgen einer Kernschmelze waren durch eine unzureichende Auslegung der Anlage gegen Hochwasser infolge eines Tsunamis begründet. Erschwert wurde die Beherrschung des Ereignisablaufes infolge der Zerstörung von Infrastrukturen, wie der externen Stromversorgung.



Da keine direkte Übertragbarkeit auf deutsche Anlagen aufgrund der nicht zu unterstellenden Erdbeben mit einem Tsunami als Folge gegeben ist, hatte sich die RSK auf die Betrachtung von auslegungs- und redundanzüberschreitenden Ereignissen oder Postulaten fokussiert. Hinweise auf Sicherheitsdefizite in der Auslegung der deutschen Anlagen, insbesondere der weiter in Betrieb befindlichen, konnten weder aus der RSK-Sicherheitsüberprüfung noch aus dem EU-Stresstest oder der GRS-Weiterleitungsnachricht abgeleitet werden. Insofern gab es auch keinen Anlass für Sofortmaßnahmen. Die RSK hat die Sicherheitsüberprüfung im Sinne eines Stresstests vorgenommen. Dazu wurde geprüft, inwieweit sowohl bei über die Auslegung hinausgehenden Einwirkungen und weitergehenden Postulaten für redundanzübergreifende Ausfälle keine Cliff-Edge-Effekte eintreten, bei denen es zu katastrophalen Folgen kommen kann. Je größer der Abstand zu diesen Cliff-Edge-Effekten, umso mehr Reserven kann die betroffene Anlage ausweisen. Je mehr Reserven eine Anlage ausweisen kann, umso robuster ist die Auslegung der Anlage. Die RSK hat dazu unterschiedliche Robustheitsgrade definiert. Insgesamt zeigen die deutschen Anlagen eine hohe Robustheit gegen auslegungsüberschreitende Ereignisse, insbesondere auch gegen Einwirkungen von außen, auf.



Die Empfehlungen der RSK konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Weiterentwicklung von Notfallmaßnahmen und die Schaffung von zusätzlichen Einspeisemöglichkeiten sowohl für die Energie- als auch Kühlwasserversorgung. Zudem wurden Empfehlungen für die Verfügbarkeit einer längeren Gleichstromversorgung und Autarkie der Anlage abgegeben. Die RSK ist weiterhin in der Beratung zur Ausgestaltung der Empfehlungen, der noch in der Sicherheitsüberprüfung als weiterer Klärungsbedarf genannten Punkte und eventueller neuer Erkenntnisse aus dem EU-Stresstest anderer europäischer Länder. Eine Stellungnahme zu den Forschungsreaktoren wird noch im Frühjahr 2012 abgeschlossen.



2.2.4
Maßnahmen anderer Staaten


Nach dem kerntechnischen Unfall in Fukushima haben viele Staaten damit begonnen, die gewonnenen Erfahrungen auszuwerten und Maßnahmen zu entwickeln und durchzuführen, um zukünftig derartige Unfälle zu vermeiden bzw. die Folgen solcher Unfälle zu minimieren. Bei der Überprüfung der kerntechnischen Anlagen standen dabei die Erdbeben- und Überflutungssicherheit, die Überlagerung verschiedener äußerer Einwirkungen, der Station-Black-out und Notfall- und Katastrophenschutzmaßnahmen im Vordergrund. Einige Staaten wie Deutschland, Schweiz und Italien zogen auch direkte Konsequenzen für laufende und geplante Anlagen. In allen Staaten findet eine Neubewertung der Anlagensicherheit statt (Stresstests). Einige Staaten haben bereits Untersuchungen vorgelegt, die Nachrüstungsbedarf an Anlagen aufzeigen, die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen begründen und Verbesserungen des Regelwerkes, der Notfallplanung und in der Aufsicht empfehlen.



2.3
Maßnahmen internationaler Organisationen


Herr Weiss, Vorsitzender des „United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation“ (UNSCEAR), präsentierte die Maßnahmen internationaler Organisationen. Unmittelbar nach dem Unfall wurde eine Vielzahl internationaler Aktivitäten initiiert, die sich mit der Aufarbeitung der Vorfälle und den Konsequenzen für Umwelt und Menschen in Japan und weltweit befassten. Auch ein Jahr nach dem Unfall sind diese Aktivitäten bei weitem noch nicht abgeschlossen. Die Erfahrungen aus Tschernobyl haben gezeigt, dass dies noch viele Jahre dauern wird. Die wichtigsten Aktivitäten im Strahlenschutz betreffen:



Die messtechnische Erfassung der Ausbreitung und Deposition der freigesetzten Aktivität, insbesondere auf japanischem Territorium: kurzfristige Maßnahmen in Japan (US DOE4, IAEA5, FAO6) und die Erfassung der globalen Ausbreitung der luftgetragenen Radionuklide (CTBTO7). Die Maßnahmen beinhalten insbesondere die Unterstützung der japanischen Stellen bei der Etablierung und Durchführung von Messkampagnen einschließlich der Dokumentation der umfangreichen Messdaten im Jahr 2011 sowie der Ermittlung der globalen radiologischen Situation.


Die Ermittlung und Bewertung der Strahlenexposition über die wesentlichen Expositionspfade und der Gesundheitsrisiken in Japan (Bevölkerung und Aufräumarbeiter) und weltweit (Fukushima Conference September 2011, WHO8 UNSCEAR). Auf Einladung der Präfektur Fukushima nahmen im September 2011 internationale Fachleute an dieser Konferenz teil, die dem Zweck diente, Erfahrungen aus der Aufarbeitung der Konsequenzen von Tschernobyl strukturiert aufzubereiten als Grundlage für eine Erstbewertung der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse und der Beratung der japanischen Stellen bzgl. der Machbarkeit der von diesen geplanten epidemiologischen Studien („Fukushima Health Survey“). Längerfristig angelegte Auswertungs- und Bewertungsprojekte der WHO („Initial evaluation of radiation exposure from the nuclear accident after the 2011 Great East-Japan earthquake and tsunami“) und von UNSCEAR („Levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident after the 2011 Great East-Japan earthquake and tsunami“) wurden bereits im Mai 2011 eingeleitet, waren aber im März 2012 noch nicht abgeschlossen.


Die Überprüfung der grundlegenden Empfehlungen zum System des Strahlenschutzes (ICRP). ICRP hat in den Jahren 2007 bis 2010 in den Publikationen 103, 109 und 111 Empfehlungen zur Anwendung des von ihr neu entwickelten Systems zur Planung und Ausgestaltung der Maßnahmen des Strahlenschutzes in und nach nuklearen Notfallsituationen beschrieben. Diese werden derzeit in der Task Group 84 einer kritischen Überprüfung unterzogen. Dabei wurden bereits viele grundsätzliche Fragen identifiziert, die in einem zweiten Schritt, z. T. in Kooperation mit internationalen Organisationen (z.B. ILO9 International Labour Organization) aufgearbeitet werden sollen. Die Arbeit erfolgt in enger Abstimmung mit japanischen Strahlenschutzexperten.


Die Erfahrungen mit der Anwendbarkeit des derzeit empfohlenen Systems des nuklearen Notfallschutzes (IAEA, OECD-CRPPH10). Zur Klärung der Fragen im Zusammenhang mit der praktischen Anwendbarkeit des von der IAEA empfohlenen Systems des nuklearen Notfallschutzes gibt es Aktivitäten der IAEA und der OECD-NEA11. Wichtige Punkte, die der Änderung bedürfen, sind identifiziert und werden derzeit in Fachgremien diskutiert. Eine Änderung des bestehenden Regelwerks bedarf aber noch geraumer Zeit.


2.4
Analysen zum atmosphärischen Transport der radioaktiven Stoffe und zu den radiologischen Auswirkungen in Deutschland


Analysen zur Ausbreitung radioaktiver Stoffe präsentierten Herr Glaab (Deutscher Wetterdienst) und Herr Raskob (Karlsruher Institut für Technologie). Zu den radiologischen Auswirkungen in Deutschland trug Herr Michel in Vertretung für Herrn Sahre (stellvertretender Vorsitzender der SSK) vor.



2.4.1
Globaler atmosphärischer Transport und Auswirkungen auf Deutschland


Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat durch das Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) und das Gesetz über den Deutschen Wetterdienst den Auftrag, für Deutschland die Radioaktivität in der Atmosphäre zu überwachen und die Ausbreitung radioaktiver Spurenstoffe in der Atmosphäre vorherzusagen. Der DWD betreibt dazu ein Messnetz mit 48 Stationen, an denen ein aufwändiges Messprogramm zur Überwachung der Luft und des Niederschlagswassers teils mit automatischen, teils mit manuell betriebenen Messsystemen durchgeführt wird. Diese Messungen sowie die entsprechenden Ausbreitungsrechnungen gehen in die Bewertungen des BMU und des BfS ein.



Zur Simulation der Ausbreitung und Deposition im Rahmen des IMIS/RODOS-Konzeptes wird im Deutschen Wetterdienst ein Lagrange‘sches Partikel-Dispersions-Modell (LPDM) verwendet. Das LPDM ist besonders geeignet, die Verfrachtung von Materie aus punktförmigen Quellen zu simulieren. Die emittierte Stoffmenge wird durch eine große Anzahl von massenbehafteten Partikeln (z.B. 1 000 000) repräsentiert und deren Transport und Dispersion in der Atmosphäre berechnet. Durch Auszählen der lokalen Partikeldichte in einem entsprechend den Anwendungserfordernissen frei wählbaren Raster lässt sich die Konzentrationsverteilung der Luftbeimengungen bestimmen.



Grundlage der Ausbreitungsrechnung bilden die Daten der numerischen Wettervorhersagemodelle des DWD (GME, COSMO-EU, COSMO-DE). Für die Berechnung der Partikelbahnen werden der dreidimensionale Windvektor und Parameter, die den Turbulenzzustand der Atmosphäre beschreiben, verwandt. Die Diffusion wird dabei mit der „Monte Carlo“-Technik simuliert. Der radioaktive Zerfall sowie die trockene und nasse Deposition bewirken eine Reduktion der Massen der einzelnen Partikel. Während die Radioaktivität allein durch die Halbwertszeit des betrachteten Radionuklids bestimmt ist, werden die Depositionsraten vom Größenspektrum der Aerosole, an das sich das Nuklid anlagert, und von atmosphärischen Parametern beeinflusst. Fallende Hydrometeore nehmen einen Teil der Partikelmasse zum Boden mit, und ebenso bleibt ein Teil der Masse eines Partikels, das durch Turbulenz gegen den Boden geschleudert wird, dort zurück.



Im Falle eines kerntechnischen Ereignisses können mit einer 9-Komponenten-Version Rechnungen mit vereinbarten Leitnukliden (z.B. I-131, Cs-137, Te-132, Zr-95, Xe-133, Ba-140, Ru-103) durchgeführt und die Ergebnisse über das IMIS/RODOS-Netz an andere für die Radioaktivitätsüberwachung zuständige Bundesbehörden weitergeleitet werden. Ein weltweiter Austausch der Daten kann über das von der EU geförderte ENSEMBLE-System erfolgen, dem die LPDM-Resultate bei Bedarf zur Verfügung gestellt werden. Im Rahmen einer WMO-Vereinbarung sind LPDM-Rechnungen auch Bestandteil eines Back-tracking-Verfahrens der CTBTO zur Überwachung des Kernwaffenteststopps. Dazu wird das LPDM im Backward-Mode betrieben.



Während der Freisetzungsphase des Fukushima-Unfalls (März/April 2011) wurden für das BfS Trajektorienrechnungen und spezielle Konzentrationsprognosen bereitgestellt, die hauptsächlich auf GME-Daten basierten. Abgestimmt mit dem BfS und dem BMU standen auf den DWD-Internetseiten im Abstand von 12 Stunden aktualisierte Ausbreitungsprognosen auch für die Öffentlichkeit zur Verfügung.



Zusätzlich wurde auch ein COSMO-Modell mit horizontaler 7-km-Auflösung in quasi-operationellem Modus über dem relevanten Gebiet (Japan und Umgebung) betrieben.



Das Radioaktivitätsmessnetz des DWD war für diesen Zeitraum in Alarmzustand versetzt worden. Die Messergebnisse der 48 Stationen wurden kontinuierlich ausgewertet und die nuklidspezifischen Resultate zum BfS und zu anderen relevanten internationalen Institutionen übermittelt.



2.4.2
Atmosphärische Ausbreitung im Nahbereich von Fukushima und dadurch angestoßene Vergleichsrechnungen in Deutschland


Sofort nach dem Bekanntwerden der Situation in den Kernkraftwerken führten nationale und internationale Institutionen Ausbreitungsrechnungen durch, um die potentiellen Auswirkungen einer Freisetzung radioaktiver Stoffe abzuschätzen. Da der Quellterm nicht bekannt war, wurde das nationale Ausbreitungsmodell SPEEDI (Rapid Impact Emergency Radiation Network Prediction System) nur mit Einheitsquelltermen oder vordefinierten Quelltermen benutzt. Die Ergebnisse der Ausbreitungsrechnungen von SPEEDI wurden – wahrscheinlich aus diesen Gründen – nicht für die Entscheidungsfindung benutzt.



Auch in Deutschland war das Interesse an Ausbreitungsrechnungen von Seiten der Politik, der Presse und besorgter Bürger groß. Viele offizielle Anfragen nach der Dosisbelastung in Japan (insbesondere im Raum Tokio) haben deutlich gemacht, dass technische Mittel benötigt werden, um Ausbreitungsrechnungen und Dosisabschätzungen auch für weit entfernte Regionen durchführen zu können. Aus diesen Gründen haben sowohl behördliche, als auch wissenschaftliche Institutionen ihre Modelle für Japan angepasst und Rechnungen durchgeführt. Insbesondere das BfS, der Deutsche Wetterdienst (DWD), das Umweltministerium Baden-Württemberg und das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) haben schon nach wenigen Tagen erste Ergebnisse bereitgestellt. Das BMU hat dann im Laufe des Jahres 2011 Rechnungen initiiert, um die verschiedenen Modellergebnisse miteinander zu vergleichen. Erste Auswertungen haben gezeigt, dass bei der Nutzung von numerischen meteorologischen Feldern (dreidimensional) deutlich bessere Ergebnisse erzielt wurden als bei Ausbreitungsrechnungen, die auf einer einzelnen Messung basieren (lokaler Messmast). Weitere Ergebnisse der Vergleichsrechnungen werden erst später zu diskutieren sein, auch die Frage, inwieweit man die Vergleiche auf Situationen ausdehnen kann, in denen Dosisleistungsmessungen, aber kein belastbarer Quellterm vorliegen.



2.4.3
Analyse der radiologischen Auswirkungen in Deutschland


Die radiologischen Auswirkungen in Deutschland waren sehr gering. Die Aktivitätskonzentrationen der Luft und der Fallout (hauptsächlich I-131 und Cs-134/137) waren um mehr als den Faktor 10 000 geringer als im Jahr 1986 in Folge des Reaktorunfalles in Tschernobyl. Im März 2011 wurden an der Messstation Schauinsland und am Forschungsstandort Rossendorf als Maximalwerte für I-131 5 bzw. 2 mBq/m3 und für Cs-137 1 bzw. 0,5 mBq/m3 gemessen. Aus diesen Messwerten lässt sich eine effektive Dosis für 2011 in Höhe von 10 nSv abschätzen. Importe aus Japan, insbesondere Lebensmittel, wurden überwacht. Nur in seltenen Fällen wurden radioaktive Stoffe nachgewiesen, in Einzelfällen an Flugzeugen und in wenigen Fällen in Lebensmitteln. Die Maximalwerte für Cs-137 betrugen 92,5 Bq/kg in Tee und 41,9 Bq/kg in Löwenzahnkonzentrat; in keinem Fall wurden die Grenzwerte der EU-Durchführungsverordnung Nr. 1371/2011 überschritten. Auch Rückkehrer aus Japan wurden untersucht, es wurden jedoch nur in wenigen Fällen radioaktive Stoffe festgestellt. Die aus den Messwerten abgeschätzte maximale effektive Folgedosis betrug 0,5 mSv, die maximale Schilddrüsendosis 1 mSv.



2.5
Analyse der Medienberichterstattung in ausgewählten europäischen Staaten


Herr Kepplinger (Universität Mainz) gab einen Einblick in das Fachgebiet der Empirischen Kommunikationsforschung. Seine Arbeitsgruppe hatte die Medienberichterstattung nach der Katastrophe in Japan untersucht. Dieser Vortrag gab Anlass für eine intensive Diskussion der Berichterstattung in den Medien, die allgemein als sehr unbefriedigend empfunden worden war. Die Arbeitsgruppe hat ihrer Untersuchung folgende theoretische Annahmen zugrunde gelegt:



Die in der Berichterstattung erkennbaren Meinungen deutscher Journalisten zur Kernenergie sind im Laufe von Jahrzehnten negativer geworden.


Die Meinungen der Bevölkerung zur Kernenergie sind das Ergebnis eines langfristigen, von den Medien geprägten Meinungswandels.


Die Darstellung von Schlüsselereignissen (Tschernobyl u. a.) ist nicht nur eine Folge des Geschehens, sondern auch eine Folge der bereits etablierten Sichtweisen. Sie unterscheiden sich von Land zu Land.


Die Untersuchung ergab diese empirischen Ergebnisse:



Deutsche Medien haben das Seebeben, den Tsunami und die Reaktorkatastrophe noch intensiver thematisiert als entsprechende Medien in anderen Ländern. Der Schwerpunkt ihrer Berichterstattung lag eindeutig auf Fukushima. Allerdings wurden die spezifischen Ursachen der Reaktorkatastrophe nur selten thematisiert.


Deutsche Zeitungen haben nach Fukushima über die Kernenergie in Deutschland genau so intensiv berichtet wie über die Reaktorkatastrophe in Japan. Dies geschah sehr schnell, sehr massiv und sehr lange.


Deutsche und schweizerische Fernsehsender haben überwiegend Bilder vom Reaktorunfall und seinen Folgen gebracht, englische Fernsehsender vor allem Bilder vom Tsunami und seinen Folgen.


Deutsche und schweizerische Medien haben einen generellen Ausstieg aus der Kernenergie bzw. ein Moratorium wesentlich intensiver thematisiert als die Medien in England und Frankreich.


Deutsche Zeitungen und Fernsehsender sowie schweizerische Zeitungen haben im Gegensatz zu den Medien in Frankreich und England einen Ausstieg aus der Kernenergie eindeutig positiv dargestellt.


Die in der Berichterstattung erkennbaren Meinungen der Journalisten besaßen bei den meisten Medien einen schwachen, aber bemerkenswerten Einfluss auf die Berichterstattung über andere Akteure. Dies betraf vor allem die Präsentation von Experten, die die Meinungen der Journalisten der jeweiligen Medien bestätigten (instrumentelle Aktualisierung).


Die Untersuchungen werden fortgesetzt.



2.6
Analyse der Notfallmaßnahmen


Herr Wirth (BfS) stellte eine Analyse des BfS der in Japan durchgeführten Notfallmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und die daraus abgeleiteten Anregungen für die Verbesserung der in Deutschland geplanten und vorbereiteten Maßnahmen vor. Aus der in Fukushima festgestellten langandauernden Freisetzung ergeben sich besondere Anforderungen an den Notfallschutz. So ist insbesondere die praktische Durchführung früher Maßnahmen vor und während der Freisetzung ergänzend zu planen. Dabei muss beachtet werden, dass psychologische Gründe gegen ein Verbleiben im Haus von länger als zwei Tagen sprechen. Erkannte Probleme bei den in Deutschland üblichen Dosisintegrationszeiten und der Höhe der dazugehörigen Eingreifrichtwerte müssen beseitigt werden.



2.7
Aufgaben und Konsequenzen für den Notfallschutz in Deutschland


Den Aufgaben und Konsequenzen für den Notfallschutz in Deutschland waren vier Vorträge gewidmet. Frau Welte (Vorsitzende des Ausschusses „Notfallschutz“) gab mit einem Beitrag der von der SSK eingesetzten Arbeitsgruppe „Erfahrungsrückfluss Fukushima“ einen Überblick über die mittelfristig notwendigen Konsequenzen für den Notfallschutz. Vertiefende Analysen wurden von Herrn Sogalla (Mitglied im Ausschuss „Notfallschutz“) zum Thema der Quelltermbestimmung, durch Herrn Kuhlen (BMU) zu Übungskonzepten und durch Herrn Urbach (Freie und Hansestadt Hamburg) zum Übergang vom Notfall in eine normale Situation präsentiert.



2.7.1
Konsequenzen für den Notfallschutz


Der Unfall in Fukushima hatte weitreichende Notfallmaßnahmen zur Folge. Die dabei gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse werden analysiert und notwendige Verbesserungen des Notfallschutzes erarbeitet und den zuständigen Stellen vorgeschlagen. Die Arbeitsgruppe der SSK hat ein Arbeitsprogramm erstellt, das praktisch alle Bereiche des anlagenexternen Notfallschutzes umfasst, wobei die bisherige Planung dahingehend überprüft wird, ob sie dazu geeignet ist, bei Unfällen der Stufe INES 7, die mit schweren Naturkatastrophen und Beschädigungen oder gar Verlust der Infrastruktur verbunden sein können und die durch langandauernde bzw. mehrfache Freisetzungen radioaktiver Stoffe in Luft und Wasser gekennzeichnet sind, den notwendigen Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten. Einige Beispiele werden im Folgenden genannt:



Nach dem jetzigen Stand der Untersuchungen werden sich Konsequenzen für die geplanten Schutzmaßnahmen ergeben. Die schon länger vorgesehene Einführung des neuen Schutzkonzeptes der ICRP in Deutschland, das den bisher in Deutschland gültigen Eingreifrichtwerten Referenzwerte und Schutzstrategien hinzufügen wird, soll nun unter Beachtung der in Japan gewonnenen Erkenntnisse erfolgen. Zu überprüfen und zu ergänzen ist die Evakuierungsplanung in Deutschland. Es ist besonders darauf zu achten, ob die bisher für Evakuierungen festgelegten Planungsradien erweitert werden müssen und welche Vorkehrungen für Fälle mit einer „gestörten“ Infrastruktur ergänzend zu treffen sind. Die geplanten Maßnahmen zur Jodblockade müssen ergänzt werden, um langandauernden oder wiederholten Freisetzungen Rechnung zu tragen. Die Schutzmaßnahme „Verbleiben im Haus“ ist zu überprüfen angesichts der in Japan gemachten Erfahrung, dass ein längerfristiger Aufenthalt über mehr als wenige Tage u. a. wegen der nicht einfachen Versorgung als nicht machbar angesehen wird. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass eine nach einer längeren Phase des Verbleibens im Haus angeordnete Evakuierung Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung hervorruft.



Der medizinische Notfallschutz bedarf der Überprüfung dahingehend, ob die Pläne in Deutschland auch für unterstellte Unfälle der Stufe INES 7 ausreichend sind. Nachdem die Wirksamkeit der bisherigen Planung seit Jahren kontrovers diskutiert wird, könnten die Erfahrungen aus Fukushima die Optimierung des medizinischen Notfallschutzes voranbringen. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der Notfallstationen zu überprüfen, da die Übertragung der japanischen Erfahrungen Hinweise darauf gibt, dass das deutsche Konzept nicht ausreichend flexibel und ressourcenschonend sein könnte. Für den Schutz der Einsatzkräfte wird ein durchgängiges Dosisbegrenzungskonzept benötigt, das für alle denkbaren Einsatzsituationen anwendbar ist, auch für Einsätze bei Hilfeleistungen im Ausland. Ein solches Konzept gibt es zurzeit in Deutschland nicht. Auch das Ermitteln und Bewerten der radiologischen Lage soll anhand der gewonnen Erkenntnisse überprüft und verbessert werden. Dazu gehören die Mess- und Entscheidungshilfesysteme, die Mess- und Probennahmeprogramme, die Lagedarstellung und die Lagebewertung. In diesem Zusammenhang sollen auch verbesserte Methoden der Quelltermbestimmung erarbeitet werden. Die GRS hat hierzu bereits Vorschläge erarbeitet und präsentiert.



2.7.2
Verbesserung der Quelltermbestimmung


Bei kerntechnischen Unfällen mit dem Potential erheblicher Freisetzungen radioaktiver Stoffe spielt der Quellterm als Grundlage für die Ermittlung der radiologischen Lage eine Schlüsselrolle. Gerade in der Frühphase eines Unfalls werden Quellterminformationen möglichst schnell benötigt.



Die GRS hat zu diesem Zweck das Quelltermprognosewerkzeug QPRO entwickelt. Es basiert auf einem Bayes’schen Netz, welches das probabilistische Modell aus einer anlagenspezifischen probabilistischen Sicherheitsanalyse (PSA) der Stufe 2 umfasst, sowie zusätzlich mögliche Beobachtungen des Anlagenzustands und daraus ableitbare Schlüsse über das Anlagenverhalten nutzt. Dazu sind über die Benutzeroberfläche von QPRO einige einfache Fragen zu beantworten. Durch Verknüpfung der eingegebenen Informationen mit dem PSA-Modell kann das Netz auf die am wahrscheinlichsten vorliegenden Ereignisabläufe schließen. QPRO liefert dem Benutzer entsprechende Wahrscheinlichkeiten für die möglichen Freisetzungskategorien. Zugehörige typische Quellterme sind hinterlegt und können über eine Schnittstelle direkt für das Entscheidungshilfesystem RODOS als Eingabedaten bereitgestellt werden. Die Aussagekraft der Prognose hängt sowohl von der Zuverlässigkeit der aktuellen Anlageninformationen als auch der Qualität der zugrunde liegenden anlagenspezifischen PSA der Stufe 2 ab.



Fällt bei einem Unfall – wie in der akuten Freisetzungsphase des Fukushima-Unfalls – der Betreiber als Lieferant eines Quellterms oder von anlagentechnischen Informationen, die für eine Quelltermbestimmung genutzt werden können, aus, ist eine Quelltermabschätzung auf Basis radiologischer Informationen und Messwerte unter Umständen die einzige Alternative. Diese kann erst nach Beginn von Freisetzungen vorgenommen werden. Ihr Wert für die Maßnahmenentscheidung im Notfallschutz ist entsprechend eingeschränkt. Dennoch können derartige Rückrechnungen von Freisetzungen aus Emissionen hilfreich sein, um Messinformationen zu ergänzen, den Unfallablauf zu verstehen und insbesondere bei lang anhaltenden oder wiederholten Freisetzungen Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung zu ziehen. Erste Auswertungen des Fukushima-Unfalls legen nahe, dass die Qualität derartiger Rückrechnungen sensibel von der Genauigkeit der Input-Daten zur Ausbreitung und Deposition abhängt.



Als Schlussfolgerung lässt sich festhalten, dass ein wesentliches Potential zur zukünftigen Verbesserung der Prognosemöglichkeit von Quelltermen in der Verbesserung der anlagentechnischen Datengrundlage (z.B. anlagenspezifische PSA-Daten auch für ausländische Anlagen) liegt. Rückrechnungen von Quelltermen aus Immissionen können hilfreich sein, insbesondere wenn der Betreiber als Quellterm-Lieferant ausfällt. Auch diese sind sehr stark abhängig von der Qualität der Eingangsdaten.



Im Ereignisfall ist jedoch gerade in der Anfangsphase mit Datenlücken und mit qualitativ fragwürdigen Daten zu rechnen. In diesen Fällen könnte die Entwicklung von Methoden zur optimalen Nutzung aller verfügbaren (anlagentechnischen und radiologischen) Daten die Quelltermabschätzung unterstützen.



2.7.3
Übergang vom Notfall in eine normale Situation


In Japan beginnen die Menschen in diesem Jahr verstärkt über die Wiederherstellung akzeptabler Lebensbedingungen und über die Möglichkeit der Rückkehr in die evakuierten Gebiete nordwestlich der Sperrzone nachzudenken. In Deutschland ist die Nachunfall-Phase nach einem radiologischen Unfall bisher nicht ausführlich diskutiert worden.



Herr Urbach berichtet über Ergebnisse, die in Hamburg im Rahmen der OECD-NEA-Übung INEX 4 mit dem Szenario einer Nachunfall-Phase gewonnen wurden. Das Übungsszenario baut auf einer Freisetzung von 5 TBq Cs-137 durch einen terroristischen Akt in der Innenstadt von Hamburg auf, die zu weiträumigen Kontaminationen von unter 0,1 bis über 10 MBq/m2 führte. Das Übungsszenario beginnt 48 Stunden nach der Explosion: Nachdem die akuten Notfallmaßnahmen durchgeführt sind und eine erste Charakterisierung der radiologischen Lage stattgefunden hat, ist zu entscheiden, welche Maßnahmen eingeleitet werden müssen und welche Entscheidungsgrundlagen dafür herangezogen werden können. Dabei werden die Bereiche Entscheidungsfindung, Gesundheitswesen, Umweltüberwachung und Lageermittlung, Schutz der Bevölkerung und Infrastruktur sowie die Planungen für die Wiederherstellung normaler Lebensbedingungen betrachtet.



Für die kontaminierten Gebiete werden Dosisabschätzungen für die erwartete Dosis ohne Schutzmaßnahmen und die verbleibende Dosis mit Berücksichtigung von Schutzmaßnahmen vorgestellt. Da im deutschen Notfallschutz bisher keine Konzepte zur Festlegung von Rückkehrwerten existieren, wird auf der Grundlage der Empfehlungen aus den ICRP-Publikationen 103, 109 und 111 zur Ableitung eines Rückkehrwertes ein Entscheidungsprozess vorgeschlagen, der Optimierungsstrategien und eine Beteiligung der betroffenen Stakeholder berücksichtigt.



Die Bearbeitung des Übungsszenarios machte konzeptionelle und rechtliche Defizite auch in weiteren Bereichen deutlich. Für die Behandlung größerer Mengen kontaminierter Abfälle und Abwässer nach einem Unfall gibt es weder im Strahlenschutzrecht noch im Abfallrecht Regelungen. Arbeitskräfte, die bei Aufräum- und Dekontaminationsarbeiten zum Einsatz kommen, müssten rechtlich als beruflich strahlenexponierte Personen eingestuft werden, da es keine Grenz- oder Richtwerte für die Strahlenexposition bei Maßnahmen zur Beseitigung von Unfallfolgen gibt. Für den Umgang mit bei einem Unfall kontaminierten Gebrauchsgütern, wie z.B. Waren, Fahrzeuge, Dokumente und anderem, gibt es keine passenden Bewertungsmaßstäbe. Es fehlt ebenso eine rechtliche Grundlage, um das Inverkehrbringen durch behördliches Eingreifen verhindern zu können.



Es wird ein flexibles Konzept für die Nachunfallphase benötigt, das es ermöglicht, angepasst an die jeweilige Lage Entscheidungsverfahren zu entwickeln, angemessene Richtwerte abzuleiten und Maßnahmen zu bewerten.



Außerdem bedarf es einer Schnittstelle zwischen dem regulären Strahlenschutzrecht und der nur begrenzt kontrollierbaren Situation in einer Nachunfallphase.



2.7.4
Übungskonzepte


Das BMU hat sich mit der Weiterentwicklung der deutschen Übungskonzepte befasst. Die Diskussion darüber, ob die deutschen Übungskonzepte ausreichend sind, wird schon seit Jahrzehnten kontrovers geführt. Allgemein wird beklagt, dass generell zu wenig geübt wird. Das BMU hat in seiner Präsentation die diskutierten Schwachstellen und Mängel der deutschen Übungspraxis konkret angesprochen, nationale und internationale Regeln und Hilfsmittel vorgestellt und eine Anpassung an den internationalen Standard vorgeschlagen. Dieses Thema wird im Rahmen des Erfahrungsrückflusses aus Fukushima weiterverfolgt werden. Das BMU wird sich für eine Stärkung der Übungskomponente des Notfallschutzes einsetzen.



2.8
Konsequenzen für den Strahlenschutz


Frau Horn (Vorsitzende des Ausschusses „Radioökologie“) hat sich mit Konsequenzen für den Strahlenschutz befasst. Im Mittelpunkt ihrer Präsentation stand der Schutz der Beschäftigten bzw. der Einsatzkräfte am Kraftwerksstandort. Zwar war es in Japan zu keinen deterministischen Strahlenschäden gekommen, aber es wurde über Probleme bei der Sicherstellung der Personendosimetrie in der Anfangsphase berichtet, und es gab Überschreitungen von Grenzwerten. Zu Beginn des Ereignisses konnte keine personenbezogene Zutrittskontrolle durchgeführt werden, daher sind bis heute ca. 160 Personen des Einsatzpersonals namentlich nicht bekannt. Dosimeter waren nicht in ausreichender Anzahl verfügbar, sodass zunächst die Dosimeter nur Gruppen zugeordnet werden konnten. Der Inkorporationsschutz war nicht immer ausreichend, und inwieweit die Jodblockade angewandt und wirksam war, ist nicht bekannt. Ein Grund für die Dosisgrenzwertüberschreitungen beim Werkspersonal war der unzureichende Schutz gegen Inhalationsbelastungen. Es fehlte Ausrüstung (Atemschutzmasken mit Jodfilter), die vorhandene Ausrüstung wurde nicht sachgerecht verwendet und die Räume, in denen sich das Personal aufhielt, waren ungenügend abgedichtet. Für den Strahlenschutz in Notfallsituationen ergibt sich ausgehend von den am Standort Fukushima gewonnenen Erkenntnissen Überprüfungsbedarf: Es ist zu prüfen, ob bei vergleichbaren Ereignissen mit hohem Personalbedarf Zutrittskontrollen und Dosimetrie gewährleistet werden können, ob die Schulung des Personals ausreichend ist und ob die benötigte persönliche Schutzausrüstung verfügbar gemacht werden kann. Außerdem ist zu untersuchen, ob das deutsche Konzept für die Nutzung von Gebäuden und Räumen in Notfallsituationen geeignet ist und ob neue Anforderungen an die Gebäude und Einrichtungen gestellt werden müssen. Dabei ist an die Schaffung der notwendigen Infrastruktur für die Unterbringung des Personals zu denken. Der in Japan gültige Grenzwert für Arbeiter, die in Notfällen eingesetzt sind, beträgt 100 mSv; er wurde am 14. März 2011 auf 250 mSv heraufgesetzt, später wurde erwogen, den Grenzwert für die effektive Dosis sogar auf 500 mSv anzuheben. Das Dosisgrenzwertsystem für Arbeiter und Einsatzkräfte in Deutschland muss unter Beachtung der in Japan gemachten Erfahrungen überprüft werden. Mit den Aufräumarbeiten auf dem Gelände stellte sich die Aufgabe des Umgangs mit kontaminiertem Abfall insbesondere hinsichtlich der Lagermöglichkeiten. Hier ist auch die Frage nach Rechtsgrundlagen zu stellen, auf deren Basis der Umgang mit solchen Abfällen erfolgen soll, wobei dies umso mehr auch für die außerhalb des Standortes anfallenden Abfälle gilt. In Deutschland fehlen diesbezüglich die Rechtsgrundlagen, die geschaffen werden müssen.



2.9
Analyse der Erfahrungen von Vollzugsbehörden und notwendige rechtliche Konsequenzen


Herr Kraus (Hessisches Ministerium für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz) präsentierte die in Hessen nach dem kerntechnischen Unfall in Japan getroffenen Maßnahmen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse. Daran anschließend berichtete Herr Kuhn (BMU) über rechtliche Konsequenzen, die sich aus den Erfahrungen nach dem Reaktorunfall ergeben werden.



2.9.1
Erfahrungen des Landes Hessen


Deutschland war aufgrund der großen Entfernung nicht direkt von relevanten radiologischen Auswirkungen betroffen, musste aber im grenzüberschreitenden Verkehr mit kontaminierten Fahrzeugen, Personen und Waren rechnen. In diesem Zusammenhang war zu prüfen, ob entsprechende Entscheidungen und Festlegungen nach dem StrVG zu treffen und entsprechende Maßnahmen zu veranlassen und durchzuführen waren. Darüber hinaus war zu prüfen, ob der Bevölkerung bestimmte Verhaltensweisen zu empfehlen waren. Der Beitrag berichtete über die Erfahrungen der Hessischen Landesbehörden, insbesondere im Zusammenhang mit dem Flughafen Frankfurt.



Unmittelbar nach Bekanntwerden des Ereignisses liefen in großer Zahl Anfragen anderer Behörden (speziell aus dem Gesundheitsbereich), aus dem Bereich der Wirtschaft (Verbände, Einzelfirmen), von den Medien und aus der Bevölkerung auf, die z. T. direkt beantwortet, überwiegend aber auf das umfassende und sachgerechte Informationsangebot des BMU umgelenkt werden konnten (z.B. über eigene Internetpräsenz). Der Flughafen Frankfurt war bereits am 14. März 2011 mit relevanten Fragestellungen zum grenzüberschreitenden Flugverkehr an die Landesbehörde herangetreten.



Im Lebens- und Futtermittelbereich hatte die Europäische Kommission sehr schnell einschlägige Grenzwerte und Durchführungsverordnungen in Kraft gesetzt. Bereits am 16. März 2011 begann für Importe aus Japan die entsprechende Probennahme durch die Tierärztliche Grenzkontrollstelle Hessen am Flughafen Frankfurt. Diese Maßnahmen werden in angepasster Form noch heute durchgeführt. Die Ergebnisse der Laborauswertungen liegen bisher alle unterhalb der Nachweisgrenzen.



Außerhalb des Lebens- und Futtermittelsektors gab es in den ersten Wochen nach dem Ereignis unterschiedliche Rechtsauffassungen zur Anwendbarkeit des StrVG die teilweise zu Unsicherheiten und Schwierigkeiten im Vollzug geführt haben. Die operativen Maßnahmen im Bereich Passagiere und Waren wurden überwiegend in Eigenverantwortung der lokalen Vollzugsbehörden festgelegt und durchgeführt. Im Ergebnis ist festzustellen, dass bei den in Hessen durchgeführten Messungen weder bei Waren noch bei Passagieren erhöhte Kontaminations- oder Inkorporationswerte gefunden wurden, die einen Zusammenhang mit den Ereignissen in Fukushima gehabt hätten. Dem gegenüber stehen Ergebnisse der deutschen Inkorporationsmessstellen, die Oberflächenkontaminationen und Inkorporationen bis maximal einige 100 Bq Radioiod und -cäsium gefunden haben, die einen klaren Bezug zu Fukushima aufweisen.



Es gibt Handlungsbedarf im Bereich der Interpretation und Konkretisierung des StrVG. Die Länderbehörden sind diesbezüglich bereits in engem Kontakt mit dem BMU.



2.9.2
Rechtliche Konsequenzen


An den Vortrag Hessens schloss sich die Betrachtung des BMU über rechtliche Konsequenzen an. Nach dem kerntechnischen Unfall in Tschernobyl 1986, bei dem Deutschland direkt von Kontaminationen betroffen war, wurde das StrVG eingeführt. Es regelt die Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS-Messprogramm), die Feststellung der radiologischen Auswirkungen eines Ereignisses und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Auf der Grundlage der damaligen Erfahrungen wurden damit die rechtlichen Grundlagen für ein effektives und koordiniertes Vorgehen in Bund und Ländern geschaffen.



Mit dem Ereignis in Fukushima, das Deutschland durch „indirekte Kontamination“ betraf, ist die Herausforderung entstanden, Regelungen für die Überwachung der Luft- und Seegrenze in einer globalisierten Weltwirtschaft zu schaffen. Dabei gilt es, 1986 noch unbekannte Lieferketten und die hohen Anforderungen an die Handlungsgeschwindigkeit zu beachten, da sich Kontaminationen über den Warenverkehr inzwischen sehr schnell verbreiten können. Hinzu kommt ein inzwischen von 12 auf 27 Staaten angewachsener EU-Binnenmarkt. Nun geht es darum, auf der Grundlage der Erfahrungen nach dem Reaktorunfall in Fukushima die rechtlichen Grundlagen für das effektive und koordinierte Vorgehen in Bund und Ländern zu überarbeiten und damit an die geänderten Herausforderungen anzupassen.



Der Novellierungsbedarf besteht in der Änderung des StrVG und dem Schaffen und Nutzen von Ermächtigungsgrundlagen. Der Novellierungsprozess wurde bereits begonnen, und Bund und Länder sind im Gespräch. Die Länder haben bereits Verbesserungsbedarf formuliert, insbesondere in den Bereichen der frühen Kommunikation des „Strahlenschutzvorsorgefalles“, der Verbesserung von Empfehlungen, der fehlenden Rechtsgrundlage für Empfehlungen des BMU und für den Vollzug der empfohlenen Maßnahmen sowie der Klärung und Kommunikation der Zuständigkeiten. Mit weiteren Diskussionen innerhalb des BMU, der SSK und auch innerhalb der EU wird der Novellierungsprozess fortgesetzt werden.





3
Zusammenfassende Stellungnahme der SSK


In einer ersten Bewertung kann festgestellt werden, dass das Ausmaß der radiologischen Folgen dieses sehr schweren kerntechnischen Unfalls der Stufe INES 7 unerwartet gering geblieben ist. Es sind bisher keine deterministischen Schäden aufgetreten. Inwieweit stochastische Schäden auftreten werden, kann jetzt noch nicht sicher beurteilt werden. Das geringe Ausmaß ist u. a. auf die sehr günstige meteorologische Situation, auf die lagegerecht durchgeführte Evakuierung der Bevölkerung und die schließlich erfolgreichen Sofortmaßnahmen zur Stabilisierung der Reaktoren zurückzuführen.



Für alle Präfekturen außer Fukushima stellt der Unfall im Sinne der Empfehlung 103 der ICRP keine Notfallsituation dar, sondern eine „existierende Situation“, für die ein Referenzwert der zusätzlichen Strahlenexposition von 1 mSv pro Jahr angewendet werden kann.



In der Präfektur Fukushima hingegen besteht eine Notfallsituation im Sinne der Empfehlung 103 der ICRP. Die japanischen Behörden haben darauf mit Notfallmaßnahmen reagiert, die im Einklang mit den Empfehlungen der ICRP stehen. Im Rahmen der Optimierung des Strahlenschutzes ist es dort derzeit möglich, einen Referenzwert der zusätzlichen internen Strahlenexposition von 1 mSv im Jahr und einen Referenzwert der externen Strahlenexposition von 20 mSv im ersten Jahr nach dem Unfall anzuwenden. Wesentliche Expositionspfade sind die externe Bestrahlung durch am Boden abgelagerte Radionuklide und die interne Bestrahlung durch den Verzehr von kontaminierten Nahrungsmitteln. Derzeit ist der Verzehr von Fisch und Nahrungsmitteln aus dem Meer und aus Binnengewässern sowie von Gemüse und Obst bestimmend für die interne Strahlenexposition.



In Deutschland waren die Aktivitätskonzentrationen der Luft und der Fallout (hauptsächlich I-131 und Cs-134/137) um mehr als den Faktor 10 000 geringer als im Jahr 1986 in Folge des Reaktorunfalles in Tschernobyl.



Die Bewältigung der Folgen des Erdbebens und Tsunamis einschließlich des Unfalls von Fukushima Dai-ichi stellt eine riesige technologische, ökologische und soziale Herausforderung für die japanische Gesellschaft dar. Die Optimierung des Strahlenschutzes in der Präfektur Fukushima wird eine schwierige und langfristige Aufgabe für die japanische Gesellschaft bleiben. Der Umgang mit den Folgen des Reaktorunfalls wird weltweit zum Prüfstein für einen rationalen Umgang mit den Themen Radioaktivität und Strahlung und deren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt werden.



Auch in Deutschland sind Konsequenzen aus den bei diesem Unfall gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen. Ein Katalog von notwendigen Überprüfungen und Verbesserungen wurde im Rahmen dieser Jahrestagung vorgestellt und diskutiert. Die SSK wird den Prozess des Erfahrungsrückflusses mitgestalten und begleiten.