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Bekanntmachung einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission (Radiologische Anforderungen an die Langzeitsicherheit des Endlagers für radioaktive Abfälle Morsleben [ERAM] vom 2. Dezember 2010)

Zurück zur Teilliste Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit







Radiologische Anforderungen an die
Langzeitsicherheit des Endlagers für
radioaktive Abfälle Morsleben (ERAM)

Empfehlung der SSK





Verabschiedet in der 246. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 02./03. Dezember 2010

Gebilligt am 15. Dezember 2010 im Umlaufverfahren





INHALT



1

Ausgangssituation

3

2

Radiologische Anforderungen an die Langzeitsicherheit eines Endlagers

4

3

Radiologischer Bewertungsmaßstab für die Langzeitsicherheit des Endlagers ERAM

5


3.1

Effektive Individualdosis in der Nachbetriebsphase

5


3.2

Reduzierung der Strahlenexposition und der radiologischen Risiken

6

4

Empfehlungen

8

Literatur

9





1
 Ausgangssituation

Zur Entsorgung schwach- und mittelaktiver Abfälle wurde in der ehemaligen DDR die nicht mehr zur Steinsalz- und Kaligewinnung genutzte Doppelschachtanlage Marie/Bartensleben am Rande der Gemeinde Morsleben (Sachsen-Anhalt) zum Endlager umgebaut. Im Jahr 1981 nahm dieses Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben (ERAM) den Betrieb auf und erhielt am 22. April 1986 die Dauerbetriebsgenehmigung. Am 3. Oktober 1990 ging die Zuständigkeit für das ERAM auf das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) als Betreiber über.



Bis Anfang 1991 wurden ca. 14 500 m3 radioaktive Abfälle aus der ehemaligen DDR bzw. aus den neuen Bundesländern endgelagert. Vom 13. Januar 1994 bis zum 28. September 1998 sind zusätzlich ca. 22 320 m3 radioaktive Abfälle, auch aus den alten Bundesländern, eingelagert worden, so dass insgesamt etwa 37 000 m3 schwach- und mittelaktiver Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung endgelagert wurden. Mit der Atomgesetznovelle vom 22.04.2002 wurde der § 57a AtG dahingehend geändert, dass zwar der Offenhaltungsbetrieb des ERAM möglich bleibt, eine weitere Annahme radioaktiver Abfälle zur Endlagerung aber ausgeschlossen ist.



Aufgrund der festgestellten bergtechnischen Instabilitäten und der dadurch resultierenden Maßnahmen zur Stabilisierung des Bergwerks führt das Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt (MLU) des Landes Sachsen-Anhalt ein Planfeststellungsverfahren zur Stilllegung des ERAM durch. Im Zuge der Stilllegung sollen die meisten Grubenbaue weitgehend mit Salzbeton verfüllt sowie die Schächte Bartensleben und Marie und die Einlagerungsbereiche abgedichtet werden.



Die Sicherheitskriterien für die Endlagerung radioaktiver Abfälle von 1983 [BMI 1983] entsprechen nach Einschätzung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) sowie der Strahlenschutzkommission (SSK) und Reaktor-Sicherheits- (RSK) bzw. Entsorgungskommission (ESK) nicht mehr dem Stand von Wissenschaft und Technik. Zu den Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung für Wärme entwickelnde Abfälle haben RSK und SSK in [RSK/SSK 2008] Stellung genommen. Außerdem hat das BMU für ein solches Endlager Sicherheitsanforderungen [BMU 2010] formuliert. Für die Stilllegung des Endlagers ERAM bedarf es dagegen noch der Festlegung von Anforderungen an die Langzeitsicherheit. Die Strahlenschutzkommission wurde vom BMU um Beratung dieser Fragestellung gebeten.



Gegenstand dieser Empfehlung sind die radiologischen Anforderungen an die Langzeitsicherheit des ERAM. Nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik ergeben sich aus der nach § 7 AtG erforderlichen Vorsorge gegen Schäden weitere Anforderungen an die Stilllegung des ERAM, u. a. im Hinblick auf

-
die langfristige Integrität der geologischen Barriere,
-
die Robustheit der technischen Komponenten,
-
den Ausschluss von Kritikalität,
-
die Redundanz und Diversität des Systems aus geologischen und technischen Barrieren und
-
die Realisierung eines geeigneten Sicherheitsmanagements.

Diese Anforderungen sind nicht Gegenstand dieser Empfehlung.



2
 Radiologische Anforderungen an die Langzeitsicherheit eines Endlagers

In ihrer Stellungnahme [RSK/SSK 2008] haben RSK und SSK festgestellt, dass sich grundlegende Anforderungen an die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle aus den internationalen Empfehlungen zu den Sicherheitsprinzipien und Schutzzielen ableiten. Den Sicherheitsprinzipien liegt das ethische Konzept zu Grunde, dass die Generationen, die den Nutzen aus der Kernenergie gewonnen haben, die Verantwortung für die sichere Endlagerung haben. Kern der Sicherheitsprinzipien sind nach [RSK/SSK 2008] die Forderungen, dass radioaktive Abfälle so gehandhabt und eingelagert werden müssen, dass Mensch und Umwelt in allen Phasen der Endlagerentwicklung vor den potenziell schädlichen Auswirkungen der eingelagerten radioaktiven Abfälle nach Stand von Wissenschaft und Technik geschützt sind sowie zukünftigen Generationen keine unzumutbaren Lasten und Verpflichtungen auferlegt werden. Daraus abgeleitet sind die Sicherheitsprinzipien, nach denen insbesondere die aus der Endlagerung resultierenden potenziellen Auswirkungen für Mensch und Umwelt auch in Zukunft das Maß heute akzeptierter Auswirkungen nicht übersteigen dürfen.



RSK und SSK empfehlen in [RSK/SSK 2008] für ein neu zu planendes Endlager für Wärme entwickelnde Abfälle für das Überprüfungskriterium „Effektive Individualdosis“ 0,1 mSv im Jahr bei wahrscheinlichen Entwicklungen und 1 mSv im Jahr bei weniger wahrscheinlichen Entwicklungen als radiologischen Bewertungsmaßstab zu Grunde zu legen.



3
 Radiologischer Bewertungsmaßstab für die Langzeitsicherheit des Endlagers ERAM

Da in das Endlager ERAM ausschließlich radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung eingelagert wurden, fällt es nicht unter den Anwendungsbereich der o. g. Anforderungen an die Langzeitsicherheit aus [RSK/SSK 2008]. Für den im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens zur Stilllegung zu führenden Langzeitsicherheitsnachweis sind deshalb geeignete radiologische Sicherheitsanforderungen festzulegen. Da sich diese am Stand von Wissenschaft und Technik orientieren müssen, sollten im Grundsatz die gleichen Prinzipien, wie sie für die Endlagerung Wärme entwickelnder Abfälle abgeleitet wurden, benutzt werden.



3.1
 Effektive Individualdosis in der Nachbetriebsphase

Analog zu den Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung Wärme entwickelnder Abfälle sollte ein radiologischer Bewertungsmaßstab für das Überprüfungskriterium „Effektive Individualdosis“ in der Nachbetriebsphase festgelegt werden.



Anders als bei einem noch zu planenden Endlager für Wärme entwickelnde Abfälle liegen die geologischen und bergbaulichen Verhältnisse beim Endlager ERAM schon vor und die Einlagerung der radioaktiven Abfälle ist abgeschlossen. Bei seiner Stilllegung handelt es sich deshalb nur eingeschränkt um eine planbare Tätigkeit.



Die SSK empfiehlt, bei dem Überprüfungskriterium zwischen wahrscheinlichen und weniger wahrscheinlichen Entwicklungen des Endlagers zu unterscheiden. Wahrscheinliche Entwicklungen sind die für den Endlagerstandort prognostizierten normalen Entwicklungen und für vergleichbare Standorte oder ähnliche geologische Situationen normalerweise beobachtete Entwicklungen. Weniger wahrscheinliche Entwicklungen sind solche, die für den Endlagerstandort unter ungünstigen geologischen oder klimatischen Annahmen eintreten können und die bei vergleichbaren Standorten oder vergleichbaren geologischen Situationen selten aufgetreten sind.



In Anlehnung an ihre Empfehlung von 2008 zu den Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung Wärme entwickelnder Abfälle empfiehlt die SSK einen Bewertungsmaßstab für das Überprüfungskriterium „Effektive Individualdosis“ von 0,1 mSv im Jahr bei wahrscheinlichen Entwicklungen und 1 mSv im Jahr bei weniger wahrscheinlichen Entwicklungen. Um der bestehenden Situation und der nur eingeschränkten Planbarkeit bei der Stilllegung des Endlagers ERAM Rechnung zu tragen, sollen diese Werte aber keine Grenz- oder Richtwerte darstellen, sondern sie sind als Referenzwerte im Sinne der ICRP [ICRP 2007] zu verstehen, die hier auch für Strahlenexpositionen in ferner Zukunft verwendet werden. Die Unterschreitung von Referenzwerten ist anzustreben, ist aber für einen Planfeststellungsbeschluss nicht zwingend. Insbesondere sollte eine Stilllegungsoption, die sich im Ergebnis des Optimierungsprozesses als die mit der geringsten Strahlenexposition und den geringsten radiologischen Risiken für die gegenwärtige und die zukünftigen Generationen erwiesen hat, nicht alleine deshalb verworfen werden, weil für sie die Unterschreitung von Referenzwerten nicht nachgewiesen werden kann. Sie sind für alle Referenzpersonen mit den verschiedenen Altersklassen der StrlSchV zu betrachten.



Die SSK weist aber ebenfalls darauf hin, dass eine Optimierung im Sinne des § 6 StrlSchV auch unterhalb der Dosiskriterien erforderlich ist. Das Vermeidungs- und Minimierungsgebot des § 6 StrlSchV soll dabei auch in Bezug auf künftige potenzielle Strahlenexpositionen nach Abschluss der Stilllegung gelten.



3.2
 Reduzierung der Strahlenexposition und der radiologischen Risiken

Für den Fall, dass die Einhaltung der Referenzwerte im Planfeststellungsverfahren zur Stilllegung des Endlagers ERAM nicht nachgewiesen werden kann, sollte die Stilllegung so erfolgen, dass die Strahlenexpositionen und die radiologischen Risiken der Gesamtmaßnahme für die gegenwärtige und die zukünftigen Generationen so gering sind, wie dies mit verhältnismäßigem Aufwand an Ressourcen und unter Beachtung aller relevanter gesellschaftlicher Aspekte möglich ist.



Die Reduzierung der Strahlenexpositionen und radiologischen Risiken der Gesamtmaßnahme auch unterhalb der Referenzwerte sollte durch einen Optimierungsprozess gewährleistet werden. Hierbei sind die folgenden radiologisch relevanten Einflussgrößen zu berücksichtigen:

·
 Bei planmäßigem Ablauf:
-
Strahlenexposition der Beschäftigten während der Stilllegung,
-
Strahlenexposition der Bevölkerung während der Stilllegung,
-
potenzielle Strahlenexposition der Bevölkerung in der Nachbetriebsphase.


·
 Bei Störfällen, Unfällen und äußeren Einwirkungen während der Stilllegung (sowohl bei untertägigen Störfällen und Unfällen als auch bei übertägigen Störfällen, Unfällen und äußeren Einwirkungen, z. B. bei der Zwischenlagerung ggf. ausgelagerter radioaktiver Abfälle):
-
Wahrscheinlichkeit des Störfalls, des Unfalls oder der Einwirkung,
-
störfall-, unfall- bzw. einwirkungsbedingte Strahlenexposition der Beschäftigten,
-
störfall-, unfall- bzw. einwirkungsbedingte Strahlenexposition der Bevölkerung während der Stilllegung,
-
störfall-, unfall- bzw. einwirkungsbedingte Erhöhung der potenziellen Strahlenexposition der Bevölkerung in der Nachbetriebsphase.


Neben den radiologischen Gesichtspunkten sind ebenfalls zu berücksichtigen:

·
 Ressourcenverbrauch (bei planmäßigem Ablauf sowie bei Stör- und Unfällen).
Jede Strahlenexposition der Beschäftigten und der Bevölkerung kann durch zusätzliche Strahlenschutzmaßnahmen weiter reduziert werden. Ab einem bestimmten Grad ist der Ressourcenverbrauch, sowohl der stoffliche als auch der ökonomische, für diese Maßnahmen jedoch unverhältnismäßig hoch.
·
 Sonstige nichtradiologische Auswirkungen und Einflussfaktoren, beispielsweise sozioökonomische Aspekte.


Die SSK weist darauf hin, dass eine Abwägung erforderlich ist zwischen

·
 den zusätzlichen Expositionen für Bevölkerung und Beschäftigte, die während der Stilllegung, also in absehbarer Zukunft, planmäßig auftreten,
·
 den zusätzlichen Expositionen für Bevölkerung und Beschäftigte, die während der Stilllegung, also in absehbarer Zukunft, aufgrund von Störfallen und Unfällen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftreten können („Risiken“),
·
 den potenziellen Expositionen der Bevölkerung, die für die ferne Zukunft ermittelt werden und einen höheren Grad an Unsicherheit aufweisen, und

unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit der für den Strahlenschutz eingesetzten Ressourcen und anderer relevanter gesellschaftlicher Belange.



Um eine ausgewogene Abwägung der Strahlenexposition und Risiken der heutigen und künftigen Generationen zu gewährleisten, sollte die Optimierung auf der Basis möglichst realistischer Annahmen zu den heutigen und künftigen individuellen Strahlenexpositionen der Referenzpersonen vorgenommen werden.



4
 Empfehlungen

Zusammenfassend ergeben sich aus den obigen Ausführungen die folgenden Empfehlungen:

-
Die potenziellen Strahlenexpositionen in der Nachbetriebsphase sollten eine effektive Individualdosis in Höhe von 0,1 mSv im Jahr bei wahrscheinlichen und 1 mSv im Jahr bei weniger wahrscheinlichen Entwicklungen nicht überschreiten. Auch unterhalb dieser Werte ist eine Optimierung im Sinne des § 6 StrlSchV erforderlich.
-
Die SSK empfiehlt die Berechnung von Strahlenexpositionen für Langzeitsicherheitsbetrachtungen in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der ICRP 103 auf der Basis möglichst realistischer Annahmen durchzuführen.
-
Da es sich um die Stilllegung eines existierenden Endlagers mit eingeschränkten planerischen Möglichkeiten handelt, sind die genannten Dosiswerte als Referenzwerte zu verstehen. Sollte ihre Einhaltung im Planfeststellungsverfahren nicht nachgewiesen werden können, so sollte vorrangig die Option gewählt werden, die sich im Ergebnis des o. g. Optimierungsprozesses als die mit der geringsten Strahlenexposition und den geringsten radiologischen Risiken für die gegenwärtige und die zukünftigen Generationen erwiesen hat. Zu berücksichtigen sind dabei auch sonstige Auswirkungen auf den Verbrauch von Ressourcen und andere relevante gesellschaftliche Belange.


Literatur

[BMI 1983]
Der Bundesminister des Innern: Sicherheitskriterien für die Endlagerung radioaktiver Abfälle in einem Bergwerk vom 20. April 1983 (GMBl. 1983, Nr. 13, S. 220), - RdSchr. d. BMI v. 20.4.1983 – RS – AGK 3 – 515 790/2
[BMU 2010] 
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle (Berlin, 30.09.2010)
http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/sicherheitsanforderungen_endlagerung_bf.pdf
[ICRP 2007] 
International Commission on Radiological Protection (ICRP): The 2007 Recommendations of the International Commission on Radiological Protection, Publication 103, 2007
[RSK/SSK 2008] 
Reaktor-Sicherheitskommission/Strahlenschutzkommission: Gemeinsame Stellungnahme der RSK und der SSK zum GRS-Bericht „Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle in tiefen geologischen Formationen“, verabschiedet von der RSK auf ihrer 408. Sitzung am 09.05.2008, verabschiedet von der SSK auf ihrer 224. Sitzung am 03.07.2008